Todesküste
haben. Unserer
Meinung nach ist er bei seiner Vorgeschichte charakterlich nicht hinreichend
geeignet. Außerdem gibt es noch weitere Gründe.«
»Sie meinen, Merseburger ist einfach zu blöde.«
Lüder hörte Reimers tief durchatmen, bevor er
antwortete: »Diese Worte stammen nicht von mir.«
»Und was ist mit den Hunden?«
»Das ist ein wenig kompliziert. Obwohl er die Hunde
nicht halten darf, können wir nicht ohne Weiteres gegen ihn einschreiten.
Bisher haben die Hunde niemandem etwas getan oder Menschen oder andere Tiere
angefallen. Man hat Merseburger auch noch nie außerhalb des Grundstücks mit
ihnen angetroffen. Und das ist der Punkt, wo sich die graue Theorie von der
Praxis unterscheidet. Wie Sie wissen, hat das Bundesverfassungsgericht eine
Reihe von gesetzlichen Einschränkungen der Hundehaltung widerrufen, die nach
dem tragischen Vorfall in Hamburg von den Ländern erlassen wurden. Tut mir
leid, aber da können wir nicht ansetzen.« Reimers ließ vorsichtig durchblicken,
dass er Lüders Ansatz, über den Verwaltungsweg etwas gegen Merseburger zu
unternehmen, erkannt hatte.
Dann muss ich mir etwas anderes einfallen lassen,
dachte Lüder und wurde durch das Telefon aus seinen Gedanken gerissen.
»Weißt du was«, meldete sich Jonas mit aufgeregter
Stimme ohne jede Begrüßung. »Sinje hat vorhin gekotzt.«
»Das heißt, sie hat sich übergeben. Was ist mit ihr?«,
fragte Lüder besorgt.
»Ach, nichts«, kam es gedämpft über die Leitung.
»Jonas! Hol bitte mal die Mama an den Apparat.«
Einen kleinen Moment war nur ein rhythmisches Knacken
zu hören. Lüder konnte sich vorstellen, dass Jonas mit den Fingernägeln am
Telefonhörer spielte. »Ich glaub, das ist schon wieder okay«, versuchte der
Junge abzulenken. Lüder kannte seinen Sohn zu gut.
»Was ist geschehen?«
»Ich hab es doch nur gut gemeint und Sinje das Glas
mit Nutella gegeben. Das isst sie doch so gern.«
»Und davon hat sie zu viel genascht?«
»Keine Ahnung«, antworte Jonas, und vor Lüders Augen
tauchte die Unschuldsmiene des Jungen auf. »Typisch Mädchen. Können nix ab.
Gibt das Ärger dafür?«, fragte er besorgt.
Lüder musste ein Lachen unterdrücken. Jonas konnte man
nicht böse sein. »Da machen wir keinen Stress drum. Aber sprechen sollten wir
darüber.«
»Ich muss jetzt wieder«, kam es erleichtert aus dem
Telefonhörer. Dann hatte Jonas aufgelegt.
Lüder legte den Hörer nicht aus der Hand, sondern
wählte die wissenschaftliche Kriminaltechnik des Hauses an.
»Braun«, meldete sich eine müde klingende Stimme.
»Moin, Frau Dr. Braun. Da habe ich Glück. Ich dachte,
Sie wären im wohlverdienten Urlaub.«
»Warum habe ich bei Ihnen immer den Eindruck, Sie
würden mich auf den Arm nehmen wollen, Herr Lüders?«
»Das würde ich gern machen. Ich fürchte aber, meiner
Frau würde es gar nicht gefallen, wenn ich Sie auf Händen tragen würde. Dabei
bin ich mir sicher, Sie hätten es als Erste verdient. Wir sind mitten in den
Sommerferien. Da ist es doch naheliegend, dass unsere eifrigsten Kollegen zum
Energietanken an südlichen Stränden weilen.«
»Das ist den Mitarbeitern vorbehalten, die
schulpflichtige Kinder haben. So wie Sie.«
Lüder fiel ein, dass er nichts über das Privatleben
von Frau Dr. Braun wusste, ob sie verheiratet war oder gar Kinder hatte. Die
Frau war wie ein Phantom, da er immer nur mit ihr telefonierte.
»Sie wollen mit mir nicht über Urlaubsziele sprechen«,
riss ihn die Wissenschaftlerin aus seinen Gedanken.
»Ich bin egoistisch und freue mich, von Ihnen
kompetenten Rat erhalten zu dürfen. Wissen Sie schon, wodurch der Tod bei dem
Mord in Heide eingetreten ist? Der Rechtsmediziner hat gesagt, er hätte kein
Geschoss gefunden, obwohl es keine Austrittsöffnung gibt.«
Dr. Braun versuchte, ihrer Stimme einen empörten
Anstrich zu geben. »Wieso interessieren Sie sich dafür? Das fällt doch gar
nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich. So gut möchte ich es auch einmal haben,
dass ich mich um Dinge kümmern kann, die mich gar nichts angehen. Aber wir …«
Sie stieß einen Seufzer aus. »Wir sind permanent unterbesetzt, und die Arbeit
ist in den letzten Jahren immer mehr geworden. Deshalb kann ich Ihnen noch
nichts sagen. Sie haben selbst festgestellt, dass wir Urlaubszeit haben. Da
dauert es manchmal ein paar Stunden länger.«
»Bitte, liebe Frau Dr. Braun. Ich bin auch mit einer
vorsichtigen Vermutung zufrieden«, bettelte Lüder.
Aber die Wissenschaftlerin blieb hartnäckig
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