Todesküste
glauben, Amerika sei ein reiches Land, haben
Sie in mancher Hinsicht recht. Sie irren aber, wenn Sie glauben, wir würden an
beliebige Leute Schecks versenden. Die Sozialstaatlichkeit dürfte im alten
Europa viel ausgeprägter sein.«
»Herr Hunter, wie erreiche ich Sie?«
»Rufen Sie mich einfach an. Sie haben ja nun meine
Nummer.«
»Und wenn ich Sie zu einem Gespräch nach Kiel
einlade?«
»Würde ich mir überlegen, ob ich dem folge«,
antwortete der Amerikaner selbstbewusst und verabschiedete sich.
Jetzt möchte ich es wissen, dachte Lüder und wählte
erneut eine Mobilfunknummer an. Er war gespannt, ob sich der »Abschnittführer«
melden würde. Nachdem die Verbindung ins östliche Nachbarland hergestellt war,
meldete sich eine Frauenstimme und erklärte etwas auf Polnisch. Dann wurde der
Text auf Englisch wiederholt: The person you are calling is temporarily not
available .
Zumindest hatte das Telefonat Lüders Aufgewühltheit
gedämpft. Nach der üblen Attacke mit der pornografischen Darstellung war seine
Besonnenheit zurückgekehrt. Trotzdem konnte er sich nicht auf die Erledigung
des Papierkrams konzentrieren. Er verließ sein Büro und suchte Edith Beyer auf.
Der Kaffee duftete einladend, und Lüder lehnte sich gegen einen Aktenschrank,
als er genussvoll das frisch gebrühte Getränk genoss.
»Was macht der Volleyball?«, fragte er die
Schreibkraft und spielte auf das Hobby der jungen Frau an.
»Wir sind im Augenblick gut in Form. Am Wochenende
haben wir ein Turnier in Sonderborg. Da geht’s richtig rund.«
»Doch nicht nur in der Sporthalle?«
Edith Beyer stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte
ab, bildete mit den Händen eine Brücke und legte den Kopf darauf. Sie lächelte
Lüder versonnen an, und zwei Grübchen bildeten sich auf ihren Wangen.
»Die dänischen Freunde verstehen es, zu feiern. Hier
im Amt haben wir ja nur selten etwas zu lachen.«
Lüder empfand das Plaudern mit der Kollegin als
angenehme Abwechslung, bei der man die Gedanken kurzweilig auf andere Themen
lenken konnte. Gern hätte er noch etwas länger geplaudert, aber Große Jäger
stöberte ihn im Geschäftszimmer auf. Der Oberkommissar trug wie üblich seine
schmuddelige Jeans, ein rot kariertes Holzfällerhemd und die fleckige
Lederweste.
»Hallo, Herr Lüders«, begrüßte er Lüder und warf einen langen Blick auf die junge Frau. »Da bin ich.«
Lüder drückte dem Oberkommissar die Hand. »Gehen wir
in mein Büro?«
Dort bat er Große Jäger, Platz zu nehmen, und zeigte
ihm das Video.
Der Oberkommissar starrte stumm auf den Bildschirm und
schüttelte zwischendurch immer wieder den Kopf. Er bat Lüder um einen zweiten
Durchlauf. Dann wechselte er seinen Platz und setzte sich Lüder gegenüber an
den Schreibtisch.
»Eine Bildmontage«, stellte Große Jäger fest. »Das
Gesicht des Kindes und die Mimik passen nicht zum Rest.«
»Zu dem Schluss bin ich auch gekommen.«
Der Oberkommissar musterte Lüder aus zusammengekniffenen
Augen. »Das ist Ihr Sohn? Und Sie sollen damit erpresst werden?«
Lüder war verblüfft. Die Kombinationsgabe des Husumers
war phänomenal. Er hatte bisher mit keiner Silbe einen Zusammenhang zwischen
dem Video und sich angedeutet.
Große Jäger kratzte sich die Bartstoppeln. »Natürlich
können Sie damit nicht im Amt spazieren gehen.«
Zu dieser Schlussfolgerung war Lüder auch gekommen.
Der Mann gefiel ihm immer besser.
»Und nun wollen wir beide versuchen, das Schwein zu
fassen, das dahintersteht.«
»Ich würde dich um deine Mithilfe bitten.«
»Ich bin dabei, Sie können sich auf mich verlassen.«
Aus irgendeinem Grund blieb Große Jäger konsequent beim Sie. »Auch wenn es so
klingt, möchte ich jetzt nicht ablenken. Mich hat der Tote aus Husum
beschäftigt. Ich habe seine Eltern ausfindig gemacht. Sie wohnen in Washington
und treffen heute Abend in Hamburg-Fuhlsbüttel ein. Der Mord ist eine Woche
her, die Leiche von der Staatsanwaltschaft freigegeben, und die Eltern möchten
ihren Sohn auf der letzten Reise in die Heimat begleiten. Außerdem hätten wir
durch die Bestätigung der Eltern die endgültige Gewissheit, dass unser Toter
wirklich der ist, als den wir ihn identifiziert haben.«
Lüders Telefon meldete sich. Er wollte zunächst nicht
abnehmen, sah aber, dass Nathusius ihn zu erreichen versuchte. Der
Kriminaldirektor bat Lüder zu sich.
Auf dem Weg in das Büro seines Vorgesetzten ging Lüder
bei Edith Beyer vorbei und bat sie, Große Jäger mit frischem Kaffee
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