Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
ausging, dass sie nicht zur Polizei gehen würde, mutmaßte Ella. Ansonsten wäre es recht unprofessionell, ein derartiges Beweisstück zu hinterlassen. Allein der Gedanke daran, dass jemand ihre Reifen aufgeschlitzt hatte, ließ ihren Puls in die Höhe schnellen, aber sie verspürte keine Angst. Sie war eher wütend.
Es gab eigentlich nur eine Person, die hinter dem Anschlag auf ihr Auto stecken konnte, überlegte sie. Waldemar. Er war wahrscheinlich der Einzige, den ihre privaten Ermittlungen so sehr beunruhigten und der zugleich dumm genug war, um ihre Reifen aufzuschlitzen. Sie hatte keine hohe Meinung von Waldemars Intelligenz. Er war impulsiv und verlor, nach dem, was Ella gehört hatte, schnell die Beherrschung. Trotzdem hatte Ella nicht vor, ihre privaten Ermittlungen von den Ereignissen des Abends beeinflussen zu lassen. Vielleicht hätte sie anders gedacht, wenn sie von dem Vorfall gewusst hätte, dessen Zeuge Rektor Lennart Holmström vierzig Jahre zuvor geworden war.
*
Er hatte mit einem unmäßigen Gefühl der Macht die Reifen des Autos von Doktor Andersson aufgeschlitzt. Er hätte gleich alle vier auf einmal aufgeschlitzt, wenn er die Zeit gehabt hätte, doch als er Schritte hörte, konnte er sich gerade noch hinter einem Betonpfeiler verstecken. Sie war ihm so nahe gekommen, dass er eine Hand hätte ausstrecken und sie berühren können. Er konnte sogar den Duft ihres Parfüms riechen. Dass sie schließlich weggerannt war, hatte ihm den Genuss noch zusätzlich vergoldet. Er hatte sie in die Flucht geschlagen. Die naseweise und selbstständige Ella Andersson. Zu selbstständig, um den Namen ihrer Familie zu tragen. Zu selbstständig, um im Familienunternehmen zu arbeiten. Wenn sie nur wüsste, was er alles hatte durchmachen müssen, um dorthin zu gelangen, wo er jetzt war. Er musste lange und hart dafür arbeiten, um das Vertrauen der Konzernleitung zurückzugewinnen, und obwohl er schon längst den Posten des Geschäftsführers hätte bekommen müssen, war Hugo der Meinung, dass er noch nicht bereit dafür wäre. Er wusste, dass er diesen Posten nicht bekommen würde, ehe Hugo grünes Licht gab. Aber keiner würde ihn daran hindern, das zu vollenden, wozu er geboren worden war. Keiner! Am allerwenigsten Ella Andersson. Er hatte die Nase voll davon, die Faust in der Hosentasche zu ballen und seinen Ehrgeiz ständig zügeln zu müssen. Ein Ehrgeiz, der lebensgefährlich für denjenigen werden konnte, der sich ihm in den Weg stellte – und Ella stellte plötzlich ein unfreiwilliges Hindernis dar.
*
Lediglich mit den Schultern und dem Kopf über der Wasseroberfläche saß Ella gedankenversunken in ihrer Sitzbadewanne. Sie hatte Kerzen im Bad angezündet, was sie den vergilbten Farbton der Fliesen beinahe vergessen ließ. Ihre Gedanken kreisten um eine Frage, die sie allzu lange aufgeschoben hatte. In ihrem Eifer, nach der Wahrheit über den Tod ihres Vaters zu suchen, hatte sie völlig vergessen innezuhalten und über das nachzudenken, was sie bereits erfahren hatte. Sie hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, die Tatsache geschluckt, dass alles darauf hinzudeuten schien, dass Frederick seinen eigenen Tod arrangiert und geplant hatte, mit nahezu einer Million das Land zu verlassen, die er offenbar aus Ernsts privatem Vermögen veruntreut hatte. Vielleicht hatte das Skelett aus Erlandssons Garten in gewisser Weise bewirkt, dass sie ihn für seinen Verrat nicht verurteilt hatte. Denn sie hatte immer noch nicht ganz die Bedeutung der Kupferperlen verstanden, die beim Skelett gefunden worden waren. Anfänglich schien ihr der Fund der Kupferperlen keinen Sinn zu machen. Nicht zuletzt weil sie bis zu diesem Augenblick keinen Grund gehabt hatte zu bezweifeln, dass es die Leiche ihres Vaters war, die man in der Asche ihres abgebrannten Elternhauses gefunden hatte. Inzwischen war ihr klar, was der Fund bedeuten könnte, ohne jedoch damit umgehen zu können. Noch nicht. Doch umschlossen vom heißen Badewasser spürte sie, wie die Wut langsam in ihr hochkochte. Vielleicht hatte diese Wut durch den Vandalismus an ihrem Auto neuen Zündstoff erhalten, aber jetzt richtete sie sich gegen ihn. Ihn. Ihren eigenen Vater, der sie verlassen hatte. Es kümmerte sie dabei nicht nennenswert, dass er ihre Mutter ebenfalls verlassen hatte. So etwas kommt vor. Aber er hatte sie verlassen. Ein sechsjähriges Mädchen, das ihn vergötterte. Er hatte sie in einer Welt zurückgelassen, in die sie nicht hineinpasste. Trotz des
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