Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
John Westmarks Eltern denken müssen. Vor ihrem inneren Auge hatte sie sie mit dem steifen leblosen Körper kämpfen sehen. Mit ihrem eigenen Sohn. Ella konnte oder wollte sich kaum vorstellen, was sie empfunden haben mussten, als sie seine Leiche in der Garage aufhängten. Auch ohne eigene Kinder zu haben, wurde ihr das Unmenschliche daran klar, sich zu so etwas zu zwingen. Während ihres Besuchs in Paris hatte sie begonnen zu ahnen, was die Eheleute zu ihrem Handeln getrieben hatte, doch erst jetzt wurde ihr die Intensität und das Ausmaß dieser Gefühle bewusst. Was war für sie schlimmer gewesen? Die Scham darüber, dass er gestorben war, während er onanierte, oder die Tatsache, dass lauter Schwulenpornos um ihn herum ausgebreitet lagen? Ellas Erfahrung zeigte, dass die Menschen sich früher oder später von schmerzhaften Trennungen oder unerwarteten Todesfällen wieder erholten. Ob das auch auf das zutraf, was das Ehepaar Westmark gemeinsam mit der Leiche ihres Sohnes gemacht hatte, konnte sie nicht sicher sagen. Vielleicht würden die Bilder ihrer Erinnerung mit den Jahren wie ein Polaroidfoto verblassen. Vielleicht hatten sie sich aber auch für alle Zukunft auf ihrer Netzhaut festgeätzt.
Mit ihrer Tasse Tee in der Hand zog sie den Vorhang zur Seite und betrat den dunklen Saal. Der alte Parkettfußboden knarrte unter ihren Füßen. Vom Erker aus hatte sie freie Aussicht auf den großen Park, die Bibliothek und die Straßenkreuzung, die um diese Zeit verlassen dalag. Schließlich erregte ein einsamer Spaziergänger ihre Aufmerksamkeit. Ein Mann in hellbraunem Mantel ging mit raschen Schritten geradewegs auf den Parkplatz zu, der direkt gegenüber von ihrem Haus lag. Genauer gesagt, er ging sogar geradewegs auf ihr Auto zu.
Ein einsames Auto fuhr auf den kleinen Parkplatz und hielt vor dem Kiosk an. Er war geschlossen. Um nicht entdeckt zu werden, hatte Waldemar sich an einen der Bäume gedrückt, die die asphaltierte Fläche säumten. Der Wagen blieb ein paar Minuten vor dem geschlossenen Kiosk stehen, bevor der Fahrer Gas gab, auf die Hauptstraße einbog und verschwand. Langsam traute Waldemar sich aus dem Dunkel und näherte sich dem niedrigen Sportwagen. Er fingerte an dem Messer in seiner Tasche herum. Es war zwar nicht besonders scharf, doch er wusste, dass es seine Funktion erfüllen würde.
»Wenn du noch einmal mit deinem Messer in meine Reifen stichst, verspreche ich dir, dass du niemals wieder richtig gehen kannst.«
Die Frauenstimme, die die Stille durchbrach, ließ Waldemar zusammenfahren. Das Messer rutschte ihm aus der Hand, und er wandte sich verdutzt der Geräuschquelle zu.
»Keinen Schritt weiter!«
Die klein gewachsene Frau, die aus der Dunkelheit trat, trug Trainingshosen und ein Unterhemd, doch in ihren Händen hielt sie so etwas wie einen Feuerhaken. Sie hielt ihn so, als würde sie jeden Moment damit zuschlagen.
»Ich wollte ja nur«, begann Waldemar, wurde jedoch sofort unterbrochen.
»Stell dir einfach vor, was für Verletzungen ein Schlag gegen die Außenseite deines Knies verursachen würde«, sagte die Frau ruhig. »Zersplittert und so zermalmt, dass nur noch eine Vollprothese infrage käme«, fuhr sie abgeklärt fort.
Waldemar konnte jetzt das Gesicht der Frau erkennen, die nur zwei Meter von ihm entfernt stand. Ellas mandelförmige Augen glühten in der Dunkelheit. Er warf einen Blick auf sein Messer, das zu seinen Füßen lag, doch im selben Augenblick huschte ein Schatten durch sein Blickfeld, woraufhin er einen schneidenden Schmerz verspürte. Der schwere Feuerhaken hatte seinen linken Fuß getroffen, und der Schmerz warf ihn zu Boden. Seine dünnen Mokassins hatten seinen Fuß nicht nennenswert schützen können. Ella kickte das Messer mit dem Fuß zur Seite, zog sich dann aber wieder in die Dunkelheit zurück. Sie wollte sich nicht unnötig in seiner Reichweite aufhalten. Sie hatte ihm gerade einen oder mehrere Knochen seines Fußes gebrochen und vermutete, dass diese Tatsache seine Laune nicht gerade aufheitern würde.
»Liebster Cousin«, flüsterte Ella. »Ich habe nicht das geringste Interesse an deinen verdammten Betrügereien. Ist das klar?«
Waldemar schaute auf. Trotz der Dunkelheit konnte sie erkennen, dass er hochrot im Gesicht war, doch der Glanz in seinen wild dreinblickenden Augen signalisierte ihr, dass ihr Schlag den gewünschten Effekt erzielt hatte.
»Ich will dich nie wieder sehen und auch nichts von dir hören«, fuhr sie im selben ruhigen
Weitere Kostenlose Bücher