Todesmarsch
trocken. »Du kannst von mir aus Eleanor Roosevelt haben, Abraham, alter Knabe.«
Abraham zeigte ihm den Vogel. Weiter vorn teilte einer der Soldaten mit monotoner Stimme eine Verwarnung aus.
»Einen Augenblick. Nur einen verdammten Augenblick.« Olson sprach sehr, sehr langsam, als ringe er mit dem überwältigenden Problem, sich richtig auszudrücken. »Das gehört hier alles nicht zum Thema.. Verdammt noch mal, nein!«
»Die transzendentalen Qualitäten der Liebe«, deklamierte McVries. »Ein Vortrag von unserem berühmten Philosophen und äthiopischen Gefängnisstürmer Henry Olson, Autor von Ein Pfirsich ohne Stein ist kein Pfirsich und weiteren bahnbrechenden Werken wie -«
»Hör auf!« brüllte Olson los. Seine Stimme knirschte wie zerbrochenes Glas. »Halt doch für eine Sekunde dein verdammtes Maul! Das mit der Liebe ist pure Verarschung! Sie ist nichts! Ein dickes, fettes Nichts - hast du verstanden?«
Niemand antwortete ihm. Garraty blickte nach vorn, wo die pechschwarzen Hügel in den sternenübersäten Himmel ragten. Er konnte nicht so recht feststellen, ob er schon die ersten Stiche eines Krampfes in seinem linken Fuß spürte oder nicht. Ich würde mich gern hinsetzen, dachte er zornig. Verdammt noch mal, ich will sitzen!
»Liebe ist doch bloß Einbildung«, plärrte Olson weiter. »Es gibt nur drei große Wahrheiten auf dieser Welt, und diese sind: ein gutes Essen, ein guter Fick und ein guter Stuhlgang. Das ist alles! Und wenn man erst soweit ist wie Zuck und Fen-ter -«
»Halts Maul«, unterbrach eine Stimme ihn gelangweilt, und Garraty wußte sofort, daß sie wieder von Stebbins kam. Stebbins blickte immer noch unbeteiligt auf die Straße hinunter und liefjetzt nah am linken Seitenstreifen entlang.
Ein Düsenjet jagte dröhnend über ihre Köpfe hinweg und malte einen hellen Kreidestreifen an den Nachthimmel. Er flog so tief, daß sie die Positionslichter abwechselnd gelb und grün aufblinken sahen. Baker pfiff wieder leise vor sich hin. Garraty ließ die Augenlider fast ganz zufallen und die Füße von allein weitergehen.
Sein halb schlafendes Bewußtsein entzog sich allmählich seiner Kontrolle, und willkürliche Gedanken jagten einander träge durch seinen Kopf. Er erinnerte sich daran, daß seine Mutter ihm, als er noch klein gewesen war, ein irisches Wiegenlied vorgesungen hatte.., Etwas über cockles and mussels alive, alive-o... Ihr Gesicht, so groß und schön wie das einer Filmschauspielerin auf der Leinwand, hatte sich über ihn gebeugt, und er hätte es stundenlang küssen mögen. Wenn er einmal groß war, würde er sie heiraten.
Dann trat Jans gutgelauntes, polnisches Gesicht an dessen Stelle, und er sah ihr dunkles, fast bis zur Hüfte hinabfließendes Haar. Sie trug einen Bikini unter einem kurzen Strandkleid, denn sie waren auf dem Weg zum Reid Strand. Garraty hatte seine ausgefransten Jeansshorts und seine Ledersandalen an.
Dann tauchte auch Jans Gesicht weg und wurde durch Jimmy Owens freche Fratze ersetzt. Jimmy hatte im selben Häuserblock gewohnt. Sie waren beide fünf Jahre alt gewesen, als Jimmys Mutter sie beim Doktorspielen im Sandkasten hinter Jimmys Haus erwischt hatte. Sie hatten sich daneben benommen - so hieß das damals. Jimmys Mutter hatte seine Mutter angerufen, und seine Mutter hatte ihn nach Hause geholt, in ihrem Schlafzimmer abgesetzt und ihn gefragt, wie es ihm gefallen würde, wenn sie ihn nackt auf die Straße schickte. Noch heute zuckte sein schlummernder Körper in Erinnerung an die Peinlichkeit zusammen. Die tiefe Scham, die er damals empfunden hatte... Er hatte geheult und gebettelt, daß sie ihn nicht nackt auf die Straße schicken möge - und daß sie vor allem seinem Vater nichts davon erzählte.
Jetzt sind sie sieben Jahre alt. Jimmy und er spähen durch die schmutzigen Scheiben eines Baubüros auf den Kalender mit den nackten Mädchen. Halb wissend, halb unwissend spüren sie dabei ein erregendes Gefühl. Irgend etwas ist da los. Auf einem Blatt ist eine Frau mit einem blauen Seidentuch quer über die Hüften zu sehen, und sie streiten darüber, was sich wohl unter diesem Tuch befinden mag. Jimmy behauptet, es zu wissen. Er sagt, er hätte seine Mutter nackt gesehen. Er sagt, es sei da unten haarig und aufgeschlitzt. Er weigert sich, das, was Jimmy sagt, zu glauben, denn er findet es ekelhaft.
Trotzdem ist er sicher, daß sich da unten bei Frauen etwas anderes befinden muß als bei den Männern. Sie verbringen einen langen, rosaroten
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