Todesmarsch
geendet hatte, wartete er gespannt darauf, daß Stebbins die Idee auseinandernehmen würde.
»Warum nicht?« antwortete Stebbins liebenswürdig und blickte lächernd zu Garraty auf. Die Müdigkeit hatte endlich auch in seinem Gesicht Spuren hinterlassen.
»Das hört sich so an, als ob du nicht viel zu verlieren hättest«, meinte Garraty.
»Ja, stimmt«, bestätigte Stebbins fröhlich. »Im Grunde hat hier keiner was zu verlieren. Das macht es auch so leicht, etwas zu geben.«
Garraty sah Stebbins deprimiert an. Was er sagte, war wahr. Es machte ihre Geste Scramm gegenüber wertlos.
»Versteh mich nicht falsch, Garraty, alter Knabe. Ich bin ein bißchen komisch, aber ich bin nicht gemein. Wenn ich durchs Zurückhalten meines Versprechens erreichen könnte, daß Scramm etwas schneller sterben würde, täte ich es. Aber das kann ich nicht. Ich weiß es nicht sicher, aber ich wette mit dir, daß es bei jedem Marsch solch einen armen Hund wie Scramm gibt und daß sich auch bei jedem Marsch Leute für eine solche Geste finden; und ich wette weiterhin, Garraty, daß es jedesmal so um diese Zeit herum passiert, wenn die alten Ängste vor der Realität und vor dem Sterben langsam überhandnehmen. Früher, vor dem Wechsel und der Nationalgarde, als es noch Millionäre gab, da haben die Leute Wohltätigkeitsfonds eingerichtet und Bibliotheken gebaut und all solchen Mist. Jeder wünscht sich ein Bollwerk gegen die Sterblichkeit, Garraty. Einige Leute können sich vormachen, daß sie es in ihren Kindern finden würden. Aber keiner von diesen armen, verlorenen Seelen« - Stebbins deutete mit seinem mageren Arm auf die Geher und lachte, aber Garraty fand, daß es traurig klang -»wird jemals die Chance haben, Kinder zu hinterlassen.« Er blinzelte Garraty zu. »Habe ich dich schockiert?«
»Ich - ich glaube nicht.«
»Du und dein Freund McVries, ihr beide stecht aus dieser kunterbunten Mannschaft hervor. Ich verstehe nicht, wie ihr hier hereingeraten seid. Aber ich würde wetten, daß die Gründe dafür tiefer liegen, als du glaubst. Du hast mich letzte Nacht ernstgenommen, nicht wahr? Wegen Olson?«
»Ich glaube schon«, antwortete Garraty lahm.
Stebbins lachte erfreut. »Du hast dich auf den Arm nehmen lassen, Ray. Olson hatte keine Geheimnisse.«
»Ich hatte gestern nacht nicht den Eindruck, daß du Spaß gemacht hast.«
»Oh, doch, das habe ich.«
Garraty lächelte angespannt. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du hast etwas gewußt, und jetzt willst du es bloß verleugnen. Vielleicht hast du Schiß gekriegt.«
Stebbins Blick verdüsterte sich. »Halt es, wie du willst, Garraty, es ist deine Beerdigung. Und jetzt war's gut, wenn du wieder verschwinden würdest. Mein Versprechen habe ich dir gegeben.«
»Du versuchst, mich zu täuschen. Vielleicht ist das dein Problem. Du möchtest gern glauben, daß dieses Spiel manipuliert sei. Aber vielleicht ist es ein völlig faires Spiel. Macht dir das Angst, Stebbins?«
»Hau ab.«
Na komm, gib's zu.«
lch gebe gar nichts zu, außer daß du ein Narr bist. Na los, rede dir ein, daß das hier ein faires Spiel sei.« Seine Wangen hatten sich leicht gerötet. »Jedes Spiel sieht fair aus, wenn alle Teilnehmer gleichermaßen betrogen werden.«
»Du bist ja völlig verdreht«, bemerkte Garraty, aber seine Simme klang nicht mehr überzeugt. Stebbins lächelte kurz und blickte wieder auf seine Füße hinunter.
Sie kletterten aus einer langgezogenen, geschwungenen Talsenke heraus, und Garraty brach in Schweiß aus, als er nach vorn eilte, um sich wieder McVries, Pearson, Abraham, Baker und Scramm anzuschließen. Die anderen hatten sich wie besorgte Sekundanten um einen angeschlagenen Boxkämpfer um den Kranken versammelt.
»'Wie geht es ihm?« erkundigte Garraty sich.
»Warum fragst du sie?« röchelte Scramm. Seine heisere Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Das Fieber war zwar gesunken, aber sein Gesicht sah immer noch bleich und wächsern aus.
»Gut, dann frage ich dich.«
»Ach, nicht so schlecht«, antwortete Scramm und hustete. Es klang wie ein unter Wasser ausgestoßenes Gurgeln. »Mir geht's nicht so schlecht. Ich finde es nett von euch, was ihr für Cathy tut. Ein Mann möchte sich lieber selbst um seine Familie kümmern, aber ich glaube, es wäre falsch von mir, auf meinem Stolz zu bestehen. So, wie die Dinge jetzt stehen.«
»Rede nicht soviel«, ermähnte Pearson ihn. »Du machst dich ganz kaputt.«
»Wo ist der Unterschied? Ob ich nun jetzt sterbe oder
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