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Todesmarsch

Titel: Todesmarsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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schon an ihm vorbei. Es schien, daß sie jetzt alle an ihm vorbeigingen, während er mit einem verkrampften, marmorharten Bein dastand, und ihn allein zurückließen.
    »Warnung! Warnung für Nr. 47!«
    Keine Panik. Wenn du jetzt in Panik gerätst, ist die Sache für dich gelaufen.
    Er setzte sich auf den Boden, das Bein wie ein Holzstück vor sich ausgestreckt, und fing an, die Wade zu massieren. Er versuchte, sie zu kneten, aber ebensogut hätte er Elfenbein kneten können.
    »Garraty?« Es war McVries. Es klang, als hätte er Angst -aber das war sicher nur Einbildung? »Was hast du? Einen Wadenkrampf?«
    »Ja, ich glaube. Geh weiter. Ich komme schon zurecht.«
    Zeit. Die Zeit raste jetzt gegen ihn. Gleichzeitig kam es ihm so vor, als seien die anderen kriechend langsam geworden. Wie die Zeitlupenwiederholung einer Torszene. McVries hob ganz langsam seine Füße, zeigte erst einen Absatz, dann den anderen, ein kurzes Aufblitzen der abgetretenen Nägel, ein kurzer Blick auf das rissige, hauchdünne Schuhleder. Barkovitch zog gemächlich an ihm vorbei, ein dünnes Lächeln auf den Lippen, und auf die Zuschauermenge senkte sich ein gespanntes Schweigen. Es breitete sich wie große Strandwellen in beide Richtungen von der Stelle aus, an der er sich hingesetzt hatte. Meine zweite Warnung, dachte Garraty, meine zweite Warnung ist im Anmarsch. Nun mach schon, Bein; na los, du verdammtes Bein, ich will nicht erschossen werden. Streng dich an, gib mir eine Chance.
    »Warnung! Zweite Warnung für Nr. 47!«
    Ja, ich weiß, denkt ihr, ich kann nicht zählen? Denkt ihr, ich sitze hier in der Sonne, um braun zu werden?
    Das Bewußtsein seines nahenden Todes, so unbestreitbar und wirklich wie eine Fotografie, drang in seine Gedanken ein und versuchte, ihn zu überwältigen. Versuchte, ihn zu lahmen. Mit verzweifelter Kaltblütigkeit schaltete er es ab. Sein Bein war ein einziger, entsetzlicher Schmerz, aber in seiner angespannten Konzentration spürte er es kaum. Noch eine Minute. Nein, jetzt nur noch fünfzig Sekunden, nein, fünfundvierzig, sie rinnen mir davon, meine Zeit läuft mir weg.
    Mit unbeteiligtem, beinahe forschendem Gesichtsausdruck grub er seine Finger in die steifen Stränge und Knoten seiner Muskeln. Er knetete, massierte, beugte das Bein. Und er sprach ununterbrochen mit ihm. Na komm schon, los, nicht nachlassen, du verdammtes Ding. Jetzt taten ihm die Finger weh, aber auch das spürte er kaum. Stebbins kam an ihm vorbei und murmelte etwas. Garraty konnte nicht verstehen, was er sagte. Es hätte »Viel Glück« heißen können. Dann saß er allein auf der unterbrochenen weißen Linie zwischen Fahr- und Überholspur.
    Alle waren jetzt gegangen. Der Jahrmarkt hatte die Stadt verlassen. Sie hatten ihre Zelte abgebrochen und waren weitergezogen, und auf dem leeren Platz saß nur noch der kleine Garraty und betrachtete die zertretenen Zigarettenstummel, das zerknüllte Bonbonpapier und die weggeworfenen, billigen Lospreise.
    Alle waren gegangen, bis auf einen großen, blonden Soldaten mit einem jungen, beinahe hübschen Gesicht. Er trug die silberne Stoppuhr in der einen und das Gewehr in der anderen Hand. In seiner Haltung lag keine Gnade.
    »Warnung! Warnung für Nr. 47! Dritte Warnung!«
    Der Muskel dachte nicht daran, sich zu entkrampfen. Er würde sterben. Nach allem, was er durchgemacht, nach all den Qualen, die er auf sich genommen hatte, würde er jetzt schlicht und einfach sterben.
    Er ließ sein Bein los und sah dem Soldaten ruhig ins Gesicht. Er fragte sich, wer wohl gewinnen würde. Er fragte sich, ob Mc Vries Barkovitch überleben würde. Er fragte sich, wie sich so eine Kugel im Kopf wohl anfühlen würde. Wäre sofort alles schwarz oder würde er noch spüren, wie seine Gedanken zerstört wurden?
    Die wenigen letzten Sekunden zerrannen.
    Der Krampf löste sich. Das Blut floß in den Muskel zurück, und das Bein kribbelte, als würde es mit tausend Nadeln ge-strichen. Das Fleisch wurde wann. Der blonde Soldat mit dem hübschen Gesicht steckte die Stoppuhr weg. Seine Lippen bewegten sich, als er lautlos die letzten Sekunden abzählte.
    Aber ich kann nicht aufstehen, dachte Garraty. Es ist zu schön, einfach hier zu sitzen. Einfach hier zu sitzen und das Telefon klingeln zu lassen. Zum Teufel damit, warum habe ich den Hörer nicht daneben gelegt?
    Er ließ den Kopf zurückfallen. Der Soldat blickte von oben auf ihn herab, und es sah so aus, als ob er am Ende eines dunklen Tunnels stünde oder über einen

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