Todesmelodie: Ein neuer Fall für Julia Durant (Knaur TB) (German Edition)
allgemein ist er ganz schön alt geworden, finde ich. Vielleicht fällt mir das nach einem Jahr Abstand einfach mehr auf, als wenn man sich jeden Tag über den Weg läuft.«
»Weiß nicht, kann sein. Er hatte es die letzte Zeit immer mal wieder im Rücken, vielleicht liegt’s ja daran.«
»Hoffen wir es.«
»Er ist halt auch nicht mehr der Jüngste, und wer weiß, wie lange er sich das hier noch antun will.«
Helena Johnson kauerte auf einer hölzernen Parkbank, deren grüner Lack schon einmal bessere Zeiten erlebt hatte. Trotz des Schattens der hochgewachsenen und weit verzweigten Linde in unmittelbarer Nähe war es drückend heiß. Dennoch war die junge Frau in eine leichte Decke gewickelt, die sie von den etwas abseits stehenden Sanitätern bekommen haben musste. Einer der beiden wickelte gerade eine Blutdruckmanschette zusammen. Von dem Notarzt, dessen Audi den Parkeingang blockierte, war nichts zu sehen.
»Schwächeanfall«, hörte Durant einen der beiden Sanis murmeln, der andere erwiderte etwas, das sie als »Schüttelfrost« interpretierte. Hellmer knöpfte sein verschwitztes Hemd um einen weiteren Knopf auf und schnaufte, während er auf die beiden zutrat. Durant setzte sich neben das Mädchen und neigte vorsichtig den Kopf zu ihr. Helena Johnson wirkte nicht nur übernächtigt, sondern auch irgendwie blass. Bei dunkelhäutigen Menschen schien Durant diese Diagnose allerdings zweifelhaft.
»Helena Johnson?«, fragte sie sanft und überlegte sich, ob eine Berührung angemessen wäre. Doch sie legte ihre Hand nicht um den noch immer leicht zitternden Körper. Keinesfalls wollte sie denselben Effekt wie bei Adriana Riva herbeiführen.
»Ich würde Ihnen gerne helfen«, fuhr Durant fort, »nur weiß ich nicht, wie.«
Dabei beugte sie sich noch etwas weiter vor und versuchte, Blickkontakt aufzunehmen. Mit leeren Augen starrte Johnson scheinbar durch die Kommissarin hindurch und zeigte keinerlei Regung. Doch dann, als Durant gerade den Kopf zurückziehen wollte, löste sich eine Träne, und das Mädchen sackte in sich zusammen. Noch während Julia Helena aufzufangen versuchte, reagierten auch die beiden Sanitäter. Sie sprangen herbei und verständigten sich mit knappen Worten darüber, wohl doch besser eine Trage zu holen.
Wimmernd kauerte Helena Johnson, eine großgewachsene und alles andere als zierliche Person, nun wie ein kleines, hilfloses Bündel im Arm der Kommissarin, die sich wie in einem Déjà-vu fühlte. Doch anders als ihre Mitbewohnerin begann sie nun zu plappern, erst undeutlich, dann immer lauter und mit einem klagenden Tonfall. »What have we done, my God, what have we done?«, jammerte sie. Für Julia Durant klang es beinahe so wie früher, damals, in der Kirche, wenn die alten Frauen Mea culpa beteten und ihre gar so große Schuld beklagten.
»Was haben wir getan, was haben wir bloß getan?«
Samstag, 14.28 Uhr
E rschrocken fuhr Alexander Bertram zusammen, als das rote Licht über seinem Monitor grell zu blinken begann. Einundzwanzig Stufen von jetzt an. Er klickte zweimal mit der Maus, schaltete den Flachbildschirm aus und erhob sich. In nahezu vollständiger Dunkelheit bahnte er sich geschickt seinen Weg und durchtrat wenige Sekunden später in geduckter Haltung eine achtzig mal achtzig Zentimeter große Luke in der Rückwand des antiken Kleiderschranks aus dunklem Nussbaumholz. Mit einer Klappe, die sich beinahe nahtlos in die Öffnung einfügte, verschloss Alexander den geheimen Durchgang, schob einen dunklen Anzug davor und verließ das Möbelstück.
Im hellen Tageslicht des Zimmers kniff er kurz die Augen zusammen, richtete sich auf und drückte die Schranktür von außen zu. Dann verharrte er einen Augenblick und lauschte. Tapp, tapp, tapp. Alexander musste seine Berechnung korrigieren. Den flinken Schritten nach zu urteilen war es nicht seine Mutter, die er auf den hölzernen Stufen hörte. Hannelore Bertram litt seit Jahren unter Asthma, so dass sie meist bei Stufe elf eine Verschnaufpause einlegte und von dort aus ein gequältes »Alexaaander« von sich gab. Diesem Ruf eilte die Hoffnung voraus, durch eine Reaktion ihres Sohnes den restlichen Aufstieg erspart zu bekommen. Gelegentlich, aber nur an ausgesprochen guten Tagen, gönnte Alexander ihr diese Erleichterung. Heute jedoch war es Wolfgang Bertram persönlich. Gerade rechtzeitig, bevor das dumpfe Pochen auf der hölzernen Tür ertönte, ließ Alexander sich in einen riesigen Sitzsack aus weißem Leder fallen und
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