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Todesmuster

Todesmuster

Titel: Todesmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert Horst
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dramatisch an. Von fast tot hat keiner gesprochen.«
    Sie sieht wieder aus dem Fenster, tastet den Himmel ab.
    »Mir ist, als hätte ich in ein Zimmer gesehen, in das man nicht reinschauen darf. Wie früher als Kind an Weihnachten.« Weiter die Augen gen Himmel. Hatte die eine Nahtoderfahrung? Wenn die reanimiert worden ist? Aber da reden die dann doch nicht drüber. Liest man überall. Schon gar nicht direkt danach.
    »Und das macht dir Angst.«
    Ganz lange Pause, zittriges Ausatmen, ein leises Pfeifen aus der Nase, dann wieder der Blick.
    »Angst?« Pause. »Es sind so viele Gefühle. Ich weiß gar nicht, ob Angst dabei ist.« Längere Pause. »Aber ich habe erfahren, was Endlichkeit ist. Wir werden uns von hier verabschieden, vielleicht nicht heute, aber wir werden es. Wissen tut man das natürlich sein ganzes Leben lang, aber das hier, das war etwas anderes. Und«, wieder aus dem Fenster, »wir werden an unsere Fehler erinnert.«
    Die hat irgendwas Außergewöhnliches erlebt. So war die noch nie.
    »Aber in deinem Leben ist doch alles in Ordnung, Mutter.«
    Keine Antwort. Noch mal die Hand tätscheln, das Gelenk. Sie lässt es geschehen, zwei Sekunden, entzieht sich sanft, wischt sich über die Wange. Das war getürkt. Ihre Armbanduhr tickt auf dem Nachttisch, draußen ruft einer Gaby.
    »Wollen wir reden? Wie früher beim Abspülen? Du spülst, ich trockne ab, und wir reden.«
    Sie wendet den Kopf, die Augen immer noch ernst, aber weicher.
    »Das war auch nicht immer richtig.«
    »Was meinst du?«
    »Du warst immer mein Großer.« Sie nimmt die Hand, streichelt ohne Druck. »Du hast sicher einiges getragen, was nicht deine Sache war. Vor allem nach Vaters Tod, aber auch sonst.«
    »Es ist, wie es ist, Mutter, das hatte schon seinen Sinn so. Quäl dich nicht damit!«
    Sie schüttelt den Kopf, die Haare schaben leise am Kopfkissen.
    »Jetzt scheint das vielleicht so, aber als junger Bursche …«
    »Hey, aus mir ist doch richtig was geworden. Eine Amtsperson.« Der Scherz ist vergebens. Ihre Züge bleiben bleiern. »Wenn das alles ist, dann mach dir man keine Sorgen.«
    »Das ist nicht alles.« Die Gedanken modellieren ihr faltige Unsicherheit um die Mundwinkel, fester Griff.
    »So schlimm kann es gar nicht sein. Nichts kann so schlimm sein.« Sie seufzt. »Spülen kannst du erst in ein paar Tagen wieder, aber wir können es ja mal ohne Handtuch probieren, was meinst du?« Tiefer Atemzug, sie sieht zur Decke.
    »Irmgard war die Letzte, mit der ich darüber gesprochen habe. Aber die ist seit fünfundzwanzig Jahren tot.«
    »Tante Irmgard?«
    »Ja. Tante Irmgard, Papas Schwester. Das ist ja die Ironie.«
    »Ihr habt euch immer gut verstanden.«
    »Ja.« Pause. »Eine solche Freundin hatte ich nie wieder. Sie hat sogar das verstanden.«
    »Das?«
    Sie dreht sich auf die Seite, legt die Handflächen ineinander, schiebt sie unter die Wange. Wirre Haare am Hinterkopf.
    »Als ich deinen Vater kennen lernte, war es meine große Liebe.« Sie schiebt jedes Wort angestrengt über die Lippen. »Und als er starb, waren wir auch wieder glücklich. Aber dazwischen gab es ein paar schwere Jahre. Du warst noch klein. Es war die Zeit, wo er viel im Ausland war.«
    Vater in der Tür, erwartungsvolles Lachen. Koffer abstellen, mit Anlauf auf den Arm, kräftiger Geruch. Hinter dem Rücken ein Spielzeugauto.
    »In dieser Zeit haben wir beide an Scheidung gedacht.« Ihr Rücken hebt und senkt sich, unhörbarer Atem. »Aber wir haben es dann irgendwie wieder hinbekommen.« Stille. »Aber«, sie setzt noch mal an, »aber in dieser Zeit gab es einen anderen Mann.«
    Kälte rieselt in den Nacken, um die Brust ein Eisenbügel. Das gibt’s doch gar nicht.
    »Ich war gekränkt, verzweifelt und … einsam. Sicher genauso einsam wie dein Vater auf seinen Reisen, aber das soll keine Entschuldigung sein. Wir haben nie darüber gesprochen.« Wieder Stille. »Und ich denke, es war gut, es ihm nicht zu sagen. Vor allem, weil ich mir auch nicht sicher bin. Sicher ist es nicht, aber möglich. Vielleicht sogar wahrscheinlich.« Sie schnieft, tastet nach dem Tempoknäuel. Draußen auf dem Flur Poltern.
    Gerda. Es ist Gerda.
    »Als Gerda geboren wurde, war er so glücklich. Mädchen empfangen Vaterliebe irgendwie ohne Umwege. Außerdem war es mit dem anderen da auch schon lange vorbei. Und weil es auch nur ein Verdacht war, da habe ich ihm nie etwas darüber erzählt. Gerda natürlich auch nicht.« Sie schnäuzt kraftlos. »Nur Irmgard.«
    Gerda, klein,

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