Todesmut - Gardiner, M: Todesmut - N.N. (Jo Beckett 4)
Fassade. Eine brüske Frauenstimme am Handy.
Wie stand sie zu Wylie? War sie eine heimliche Geschäftspartnerin? Eine Geliebte?
Die Entführerin?
Vielleicht konnte Evan es herausfinden, wenn sie die anderen Bruchstücke von Telefonnummern aus Wylies be schädigtem Handy zusammensetzte. Sie hielt vor einem Mini restaurant, ließ sich Hunan-Huhn und ein kaltes Tsingtao-Bier geben und nahm sie in das Touristenmotel mit, in dem sie abgestiegen war. In ihrem Zimmer warf die verblassende Sonne rotes Licht über den Resopaltisch. Der Wetterbericht im Fernsehen prophezeite Gewitter in der Sierra Nevada.
Sie holte ihr Notebook und die Liste unvollständiger Telefonnummern heraus. Aber bevor sie mit den Anrufen begann, telefonierte sie mit Santa Barbara.
Nach dem siebten Klingeln meldete sich ihre Nachbarin und Freundin Nikki Vincent. »Wie kannst du eine Schwangere so aufscheuchen?«
»Wenn es doch mein Lieblingsspiel ist«, antwortete Evan. »Wie geht’s?«
»Famos.«
Evan lächelte. Nikki war eine straffe afroamerikanische Künstlerin, die ihr Haar in Dreadlocks trug. Famos klang aus ihrem Mund ungefähr so, als würde Nancy Reagan für Metallica singen.
»Georgie geht es gut. Ich hol sie gleich«, setzte Nikki hinzu.
Georgie – Georgia Delaney – war Evans elfjährige Halb schwester. Vor nicht allzu langer Zeit hatte Evan unter schwierigen Umständen ihre Vormundschaft angetreten. Georgie hatte Mühe, sich in das Leben in Kalifornien mit ih rer großen Schwester hineinzufinden, die sie erst vor Kurzem kennengelernt hatte. Schließlich konnte sie nicht wissen, wie lange Evan die Rolle der Ersatzmutter einnehmen würde. Einen Monat? Ein Jahr? Für immer?
Und jetzt war Evan zwei Tage weggefahren. Das schlechte Gewissen versetzte ihr einen Stich.
Am anderen Ende der Leitung klapperte es. Dann meldete sich die Stimme eines kleinen Mädchens. »Hiya.«
»Wie war dein Tag, Schätzchen?«
»Nach der Schule haben wir Football gespielt, und jetzt kocht Nikki Paella.«
Mit Football meinte Georgie Fußball. Sie sprach mit starkem britischen Akzent. Sie redeten ein paar Minuten, und Georgie fragte: »Sehen wir uns am Sonntag?«
»Bestimmt. Sei schön brav. Ich hab dich lieb.«
Evan beendete den Anruf. Sie saß in dem stillen Motelzimmer und hielt das Telefon fest. Das schlechte Gewissen wollte nicht vergehen. Ich mach das für dich. Für uns beide. Um der Welt zu beweisen, dass ich noch da bin, dass ich kämpfe und auf der Seite der Gerechtigkeit stehe.
Und um zu beweisen, dass Phelps Wylie kein Niemand war. Sein Tod durfte nicht ungeklärt bleiben, kein Thema, um das sich gehässige Gerüchte rankten. Er hatte es verdient, dass nachgeforscht wurde.
Sie legte die Liste der unvollständigen Nummern aus Wylies Verbindungsspeicher auf den Tisch und machte sich daran, systematisch jede mögliche Kombination zu wählen. Sie brauchte neunzig Minuten, um die gesamte Liste abzuarbeiten und alle Nummern abzuhaken, unter denen es keinen Anschluss gab oder die offensichtlich keine Verbindung zu Wylie hatten.
Die letzte Nummer klingelte ewig, bevor sich eine roboterhafte Maschinenstimme meldete. »Die Person, mit der Sie sprechen wollen …« Nach einer winzigen Pause kam eine andere Stimme: »Ruby Ratner.« Dann wieder der Roboter: »… ist gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie nach dem Piepton eine Nachricht für … Ruby Ratner .«
Evan bat Ratner, sie zurückzurufen.
Ruby Ratner.
Eine androgyne Stimme. Ein hoher Tenor oder ein tiefer Alt. Wenn sie hätte raten sollen, ob es ein Mann oder eine Frau war, hätte Evan gezögert.
War das die Frau, die sich bei Ragnarok gemeldet hatte? Der Entführer oder die Entführerin?
Die Websuche nach Ruby Ratner ergab neun Treffer. Die meisten stammten aus der US -Volkszählung und boten Hilfe bei der Suche nach der Häufigkeit des Namens an. Doch ein Treffer war eine Site mit öffentlich zugänglichen Behördendaten, die ein halbes Dutzend Ruby Ratners im Westen der Vereinigten Staaten auflistete. Zwei in der Bay Area. Eine – oder einer? – in San Francisco.
Und die Telefonnummer in Wylies Verbindungsspeicher war aus San Francisco. Sie schaute im Telefonbuch nach. Ratners Adresse stand drin.
Die Site mit den Behördendaten versprach pikante Details über Verschuldung und Vorstrafen, wenn sie ein Premium abo kaufte. Dazu reichte die Eingabe ihrer Kreditkarten nummer.
Der blinkende Cursor, der sie zum Zahlen einlud, war nicht unbedingt ein Knurren. Eher ein Raunen,
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