Todesnacht - Booth, S: Todesnacht - Scared to Live
sie sich erschöpft. Ihre Augen waren trocken, und ihre Haut fühlte sich schmutzig an. Sie eilte den Korridor zur Damentoilette hinunter, wo sie sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte und eine Weile kontrolliertes Atmen praktizierte, bis sie ruhiger wurde.
Dann betrachtete sie sich im Spiegel über dem Waschbecken. An manchen Tagen war es keine gute Idee, das zu oft zu tun. Wenn sie nicht aufpasste, konnte sie plötzlich einen Blick auf die Person erhaschen, die sie beinahe vergessen hatte – auf das Mädchen, das in verschiedenen Pflegefamilien im Black Country gelebt hatte. Manchmal kam es ihr vor, als sei das bereits eine Million Jahre her. Dann wieder wurde ihr bewusst, dass es eigentlich erst gestern gewesen war.
Fry hatte einmal einen Zeitungsartikel gelesen, der folgendermaßen begann: »Kate Adie, Marilyn Monroe, Jim Bowen, Larry Grayson, Edgar Allen Poe, Bill Clinton und Steve Jobbs... Was haben alle diese Personen gemein?«
Die Antwort des Journalisten lautete natürlich, dass sie alle Adoptiv- oder Pflegekinder gewesen waren. Damals hätte Fry die Zeitung am liebsten in Stücke zerrissen und dem Verfasser in den Allerwertesten geschoben. Als ob sie danach gestrebt hätte, es auf eine Liste zu schaffen, auf der Larry Grayson und Bill Clinton standen. Es weckte keine positiven Gefühle in ihr, zu wissen, dass sie etwas mit Jim Bowen gemein hatte. Und Edgar Allan Poe? War der nicht völlig irre gewesen?
Fry trocknete sich das Gesicht ab, kämmte sich das Haar und glättete mit der Hand ihre Jacke. Sie hatte keinen Grund, genauso unordentlich auszusehen wie Ben Cooper.
Natürlich gab es viele schlechte Motive dafür, Kinder zu adoptieren. Adoption war oft ein egoistischer Akt, doch manche Motive waren besonders egoistisch. Manche Paare glaubten, damit ihre Ehe retten zu können, andere wollten ein Kind ersetzen, das gestorben war, oder einem Einzelkind einen Spielkameraden geben. Einige taten es, weil alle ihre Freunde Babys bekamen oder weil sie ein Kind als modisches Accessoire oder als politisches Statement betrachteten. Manche waren der Ansicht, eine Adoption würde dafür sorgen, dass sie im Alter Gesellschaft hatten, eine Rentenversicherung, einen Nachfolger für den Familienbetrieb oder einfach nur jemanden, der ihren Namen weiterleben ließ. Alle diese Motive waren im Wesentlichen ausbeuterisch. Bei keinem davon stand das Wohl des Kindes im Vordergrund. Was war also Lindsay Mullens Motiv gewesen? Sollte sie glauben, was Henry Lowther gesagt hatte?
Eine Adoption war immer eine problematische Angelegenheit. Doch es schien kein Zweifel daran zu bestehen, dass die Mullens Luanne liebten. Falls es ihrem leiblichen Vater gelingen sollte, sie zurückzuholen, konnte man nicht wissen, welches Schicksal ihr bevorstand.
Fry starrte ihr Spiegelbild an und schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich langsam besser. Sie begann wieder zu denken, anstatt
nur zu reagieren. Eigentlich hätte sie fachmännischen Rat gebraucht, doch sie wusste nicht, an wen sie sich wenden konnte, der über Sachkenntnis auf dem Gebiet des Babyhandels verfügte. Nicht jede Agentur gab bereitwillig Auskunft.
Ihr fiel ein, dass es bei der Polizei von South Yorkshire eine Einheit gab, die Operation Reflex hieß und zur Bekämpfung von Menschenhandel ins Leben gerufen worden war. Ein Kollege vom Immigration Service arbeitete mit dem Team zusammen, um Informationen über Personen zu erhalten, die möglicherweise in Einwanderungskriminalität verwickelt waren.
Doch das Team von Reflex beschäftigte sich vor allem mit Frauenhandel im Sexgeschäft. Es hatte vor kurzem einen Erfolg in Sheffield verbuchen können, wo ein fünfzehnjähriges Mädchen aus Litauen als Prostituierte verkauft worden war. Das Mädchen war am Terminal drei in Heathrow angekommen, um als Eisverkäuferin zu arbeiten, und war dann zum Preis eines Gebrauchtwagens verkauft worden. Bevor das Mädchen schließlich nach South Yorkshire kam, war es mehrmals weitergereicht worden, hatte langsam an Wert verloren, da es keine Jungfrau mehr war, und hatte etliche Verletzungen davongetragen, weil es regelmäßig verprügelt worden war. In der Gebrauchtwagenbranche wurde das vermutlich als Wertminderung bezeichnet.
Fry beobachtete, wie sich ihr Gesicht im Spiegel veränderte. So war es besser. Jetzt sah sie eher wieder wie jemand aus, der alles unter Kontrolle hatte.
»Angst ist eine äußerst interessante Emotion«, sagte Dr. Sinclair. »Man kann nicht im Nachhinein
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