Todesnacht - Booth, S: Todesnacht - Scared to Live
getan hat.«
Sie gingen aufs Haus zu. Die Eingangstür stand offen, und es herrschte noch immer ein Kommen und Gehen von Polizisten, die eingetütete Gegenstände zur Untersuchung im Labor abtransportierten.
»Kein Mensch hat Annie besucht?«, fragte Fry.
»Na ja, Mum hat gelegentlich bei ihr vorbeigeschaut, um nachzusehen, ob bei ihr alles in Ordnung ist. Ein paarmal im Jahr haben wir sie zu uns eingeladen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag war sie immer bei uns. Als Kinder hatten wir Angst, wenn sie kam.«
»Warum?«
»Annie gehörte zu den einsamen Menschen, die wochenlang mit niemandem sprechen, und wenn sie dann endlich Gesellschaft hatte, konnte sie sich nicht beherrschen und redete viel zu viel. Es war, als wollte sie sich selbst beweisen, dass sie noch in der Lage war, eine Unterhaltung zu führen,
und dass ihr jemand zuhörte, wenn sie etwas erzählte. Ich nehme an, sie musste sich vergewissern, dass sie in den Augen anderer noch existierte.«
»Hast du schon damals andere Leute psychoanalysiert?«, sagte Fry. »Ja, ich wette, das hast du. Ich kann mir dich gut als achtjährigen Sigmund Freud vorstellen.«
Doch Cooper ignorierte sie. Er kannte sie inzwischen gut genug. Manchmal machte sie solche Bemerkungen aus einer Art Verteidigungsinstinkt heraus. Und zwar immer dann, so kam es ihm vor, wenn er von verletzlichen und einsamen Menschen sprach.
»Die Folge war natürlich, dass alle versuchten, Old Annie aus dem Weg zu gehen«, sagte er. »Das war vermutlich auch der Grund, warum ihre Verwandten sie nie besuchten und warum selbst der Postbote die Tür seines Lieferwagens offen und den Motor laufen ließ. Mum sagte immer, dass sie Schwierigkeiten hätte, das Cottage wieder zu verlassen, nachdem sie es betreten hatte.«
»Niemand geht gerne einem Langweiler in die Falle.«
»Ja, ich nehme an, Annie war eine schreckliche Langweilerin, aber das war noch nicht alles. Als kleines Kind fand ich sie ziemlich Furcht einflößend. Sie hatte einen leicht hysterischen Tonfall, der alle nervös machte. Deshalb gaben sich die Leute alle Mühe, ihr aus dem Weg zu gehen.«
»Gott steh mir bei, hoffentlich sterbe ich, bevor ich auch so werde.«
Sie fanden Hitchens und Kessen am Rand des Feldes, das an den Garten von Bain House angrenzte. Der Detective Chief Inspector schnüffelte wie ein Hund, als versuchte er, den Geruch des Täters zu wittern. Wayne Abbott kam über das Feld auf sie zu, wobei seine Stiefel in den Furchen der gepflügten Erde knirschten.
»Eigentlich wurde mir beigebracht, dass man um Felder außen
am Rand herumgehen soll, damit man die Ernte nicht zertrampelt«, sagte er. »Aber heute mache ich mal eine Ausnahme, weil sich Reifenspuren genau am Rand des Feldes befinden.«
»Die Reifenspuren wovon?«
»Wahrscheinlich von einem schwarzen Auto, ganz sicher aber von einem dunklen.«
Kessen blickte überrascht und vielleicht sogar ein bisschen irritiert drein. »Wie kommen Sie darauf?«
»Tja, ich wette, sie haben gehofft, dass die Anwohner sie für Blender halten, wenn sie unverhohlen über das Feld fahren.«
»Blender?«
»So nennt man Wilderer, die nachts auf dem Land Tiere schießen. Sie benutzen einen hellen Schweinwerfer, um ihre Beute zu blenden.«
»Ja, davon habe ich schon gehört – Hasen und so.«
»Nicht nur Hasen – Dachse, Rotwild, Schafe und was es noch alles gibt. Alles, was aufsteht und sich abknallen lässt.« Abbotts Blick wanderte von einem zum anderen. »Detective Constable Cooper kann Ihnen bestimmt mehr dazu sagen. Er hat sicher selber schon mal Erfahrungen damit gesammelt.«
»Na ja...«, begann Cooper, doch niemand hörte ihm zu.
»Aber die Sache ist die«, sagte Abbott. »Falls die Anwohner der Meinung gewesen wären, dass in dieser Nacht jemand gewildert hat, hätten sie sich wahrscheinlich nicht einmal dann die Mühe gemacht, die Polizei zu rufen, wenn sie Schüsse gehört hätten.«
»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst.«
»Auf dem Land gehen die Uhren anders – man gewöhnt sich daran, Schüsse zu hören. In der Stadt würde vielleicht jemand die Polizei verständigen, aber hier draußen fragt man sich nur, wie viele Tiere sie geschossen haben.«
»Ich verstehe. Aber die Farbe des Fahrzeugs...?«
»Na ja, zum Wildern würde man kein weißes Auto nehmen,
oder? Man möchte schließlich, dass die Beute den Blick auf das Licht richtet und nicht auf die Lackierung der Motorhaube.«
»Außer den Reifenspuren haben Sie nichts gefunden?«
»Nein. Ich hatte
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