Todesregen
um die gewölbten Rippen hoch oben an der Decke und ließen die Heiligen und Engel auf den bunten Glasfenstern vibrieren.
In die Brust getroffen, zuckte der Kadaver zurück und stürzte zu Boden. Er brachte den dort liegenden Messkelch ins Rollen und verwickelte sich in dem zerknüllten Altartuch.
Offenbar ließ sich das Ding, das sich in der Leiche breitgemacht hatte, von einer Schrotladung nicht beeindrucken.
Zappelnd versuchte es mitsamt seiner grausigen Hülle, das Tuch abzuschütteln und wieder auf die Beine zu kommen.
Der Pistolengriff, den Mollys Hand umklammerte, verlor rapide seine beruhigende Wirkung. Womöglich war selbst eine gut gezielte, aus nächster Nähe abgefeuerte Salve von Hohlspitzgeschossen nicht in der Lage, diesen verhexten Kadaver aufzuhalten, wenn es sich bei dem, was ihn verhexte, um eine nahezu unverwundbare Lebensform handelte, die eher pflanzlicher als tierischer Natur war.
Geleitet vom Lichtkegel der Taschenlampen, setzten die Flüchtenden inmitten flackernder Schatten ihren Weg fort. Sie hatten erst zwei Schritte getan, als der Boden bebte wie nie zuvor. Zitternd splitterten die Dielen und brachen auf.
Molly stolperte und wäre fast hingefallen.
Zwischen Neil und dem Mann hinter ihm zuckten zerborstene Dielenbretter hoch, sodass ein schartiges Loch entstand.
Gestank stieg aus dem Keller auf. Offenbar war es fauliger Atem, denn fast im selben Augenblick kam ein Ding aus dem Loch, das im nervösen Schein der Taschenlampen nur sehr vage sichtbar wurde.
Käfer, dachte Molly.
Undeutliche Einzelheiten im zuckenden Licht. Insektenhaft, riesig. Ein glänzender Rückenpanzer. Fühler. Bösartig gezackte Kiefer. Ein bewehrter Unterbauch. Gliederfüße. Zahlreiche Facettenaugen, unbeschreiblich fremdartig und schwach leuchtend. Plötzlich ein aufgesperrtes Maul und ein von Zähnen starrender Schlund, übler als der eines Hais.
Der dicke Mann wurde gepackt und schreiend in den Keller hinabgerissen.
Im einen Augenblick war das Ding erschienen, im nächsten wieder verschwunden.
Das plötzliche Aufbrechen des Bodens, die zappelnden Beine des Dicken und ihre eigene Panik hatten die Kinder zusammenprallen lassen. Drei waren dabei zu Boden gefallen,
und eines – das Mädchen mit den Sommersprossen und dem braunen Haar – war in das Loch gerutscht. Im letzten Augenblick hatte es sich mit beiden Händen am zersplitterten Ende einer Diele festgehalten und hing nun mit in den Keller baumelnden Beinen da.
Aus der Finsternis unter dem Mädchen flehten die qualvollen Schreie des verschwundenen Mannes um Tod und oder wenigstens Erbarmen, denn er wurde nicht sofort zerbrochen und ausgesaugt, sondern erlitt einen langsamen Tod, den man sich nicht auszumalen wagte.
40
Das Mysterium des Bösen ist zu tief, um vom Licht der Vernunft erhellt zu werden, und obgleich der Keller der Kirche sicher nicht tiefer als dreieinhalb Meter war, bot er Mollys Augen eine so vollkommene Finsternis, als blickte sie in die sternenlose Leere jenseits der Grenzen des Universums.
Bevor der dicke Mann hinabgezerrt worden war, hatte er seine Taschenlampe fallen lassen. Sie war an die Wand gerollt und leuchtete nun in Richtung der Sakristei, ohne viel erkennen zu lassen.
Molly wagte nicht, ihre Lampe in das Loch zu richten. Sie hatte Angst, die Kreatur zu reizen, die herausgekommen war – oder eine Schar anderer Gräuel. Nach kurzem Zögern streckte sie dem hageren Mann die Lampe hin und wies ihn an, damit den Altarraum abzusuchen, falls dort weitere Bedrohungen lauerten, die mit einer Schrotladung wenigstens vorübergehend in Schach gehalten werden konnten.
Dann sank sie am schartigen Rand des Lochs auf die Knie und packte das baumelnde Mädchen an den Armen.
Die grässlichen Schreie, die von unten kamen, ließen das Kind erstarren. Statt sich retten zu lassen, weigerte es sich, die Dielenkante loszulassen.
»Lass los, ich heb dich hoch und hol dich raus!«, versprach Molly.
Die Augen des Mädchens, die in drei Grüntönen leuchteten – Apfelgrün, Jadegrün, Seladongrün –, blickten Molly flehend an. Es wollte Hilfe, hatte jedoch kein Vertrauen.
Um die Erstarrung zu lösen, versuchte Molly, eine Verbindung zu der Kleinen herzustellen. »Schatz, wie heißt du eigentlich?«, fragte sie.
Von unten kamen das elende, stotternde Klagen des verschwundenen Mannes, ein Zappeln, ein feuchtes, saugendes Geräusch – und als Hintergrund ein kaltes Wispern, wie tausend Stimmen, die gierig ihren Appetit
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