Todesreigen
begann sie.
»Sie wurde 1722 hergestellt. Paganini hat auf ihr gespielt. Vivaldi hat sie fünf Jahre lang besessen. Sie war bei der Uraufführung von
La Bohème
im Orchestergraben. Sie hat Caruso und Maria Callas begleitet, und als Domingo mich gebeten hat, mit ihm in der Albert Hall aufzutreten, habe ich auf
diesem
Instrument gespielt…« Sein Blick wandte sich ruckartig Weber zu: »Verstehen Sie, wovon ich spreche?«
»Nicht wirklich, Sir«, erklärte der Sergeant gut gelaunt. Dann wandte er sich an Tony. »Kommen Sie mal mit herüber. Ich will mit Ihnen reden.«
»Sie verstehen doch was von Musik. Wer, zum Teufel, ist der Kerl?«, fragte Weber Tony, als sie gemeinsam unter der Feuertreppe standen. Noch immer regnete es nicht, obwohl der Dunst sich zu dichtem, kaltem Nebel zusammengezogen hatte.
»Pitkin? Er ist Dirigent und Komponist, wissen Sie. Wie Bernstein.«
»Wer?«
»Leonard Bernstein.
West Side Story
.«
»Oh, Sie meinen, er ist berühmt.«
»Stellen Sie ihn sich als den Mick Jagger der Klassikszene vor.«
»Scheiße. Dann schaut die Welt jetzt auf uns, was?«
»Wahrscheinlich.«
»Sagen Sie die Wahrheit. Sie hatten keine Chance, dem Täter eins zu verpassen?«
»Nein«, sagte Tony. »Als er mir gegenüberstand, hatte ich kein deutliches Ziel, und der Hintergrund war nicht klar. Die Kugel hätte sonst wohin gehen können. Und später konnte ich nur noch seinen Rücken erkennen.«
Weber seufzte, und sein Gesichtsausdruck wirkte noch mürrischer als sonst. »Na ja, dann müssen wir dem Druck wohl standhalten.«
Er schaute auf die Uhr. Es war beinahe Mitternacht. »Ihre Schicht ist zu Ende. Schreiben Sie noch den Bericht, und dann gehen Sie nach Hause.«
Tony hielt eine Hand hoch. »Ich hab eine Bitte.«
»Was?«
»Mein Sieben-achtzehn.«
Das Bewerbungsformular als Detective. Das im Augenblick zusammen mit rund dreitausend anderen Formularen auf einem Stapel lag. Oder, wahrscheinlicher,
unter
dreitausend anderen Formularen.
Der schlaue alte Sergeant begriff. Er grinste. Eine Chance, den Stapel so weit durchzumischen, dass das eigene Formular ganz oben liegen blieb, bestand darin, einen prominenten Täter festzunehmen – einen Serienmörder oder jemanden, der einen Polizisten oder, beispielsweise, eine Nonne erschossen hatte.
Oder den Typen, der eine Fiedel für eine halbe Million gestohlen und den Bürgermeister in eine peinliche Situation gebracht hatte.
»Sie wollen ein Stück von dem Fall«, sagte Weber.
»Nein«, antwortete Tony ohne zu lächeln. »Ich will den ganzen Fall.«
»Sie können den
ganzen
Fall nicht bekommen. Was Sie haben können, sind vier Stunden. Eine halbe Schicht. Aber ohne Überstunden. Und Sie arbeiten zusammen mit den Detectives.« Der Sergeant schaute dem jungen Streifenpolizisten in die Augen. »Sie wollen nicht mit den Detectives zusammenarbeiten, stimmt’s?«
»Stimmt.«
Weber rang mit sich. »In Ordnung. Aber hören Sie zu, Vincenzo – damit die Sache funktioniert, brauchen wir den Täter. Nicht nur die verdammte Geige.« Mit dem Kopf deutete er in Richtung der Frau aus dem Bürgermeisterbüro. »Sie brauchen jemanden, den sie ans Kreuz nageln können.«
»Klar.«
»Also los. Die Zeit läuft.«
Tony machte sich auf den Weg Richtung Osten, zum Revier. Dann hielt er inne und kehrte noch einmal zu Pitkin und der Helferin des Bürgermeisters zurück. »Ich hab eine Frage. Sie haben doch Paganini erwähnt.«
Ein Blinzeln. »Ja, das habe ich. Was ist mit ihm?«
»Na ja, ich kenne eine Geschichte über Paganini. Also, eines Tages beschlossen seine Freunde, ihm einen Streich zu spielen… Sie taten Folgendes: Sie schrieben ein dermaßen kompliziertes Stück für die Geige, dass es einfach unspielbar war, weil die menschlichen Hände nicht dafür geschaffen waren. Sie ließen es auf einem Notenständer stehen und luden ihn zu sich ein. Paganini tritt also ins Zimmer, wirft einen Blick auf die Noten, geht dann in eine Ecke des Zimmers, nimmt seine Geige heraus und stimmt sie. Dann, und das muss man sich einmal vorstellen, schaut er seine Freunde an und lächelt. Und er spielt das ganze Stück perfekt herunter. Aus dem Gedächtnis. Das hat sie völlig fertig gemacht. Ist das nun eine großartige Geschichte oder nicht?«
Pitkin bedachte Tony mit einem kalten Blick. »Sie hätten auf den Mann schießen sollen, Officer.« Er drehte sich um und stieg in seine Limousine.
»Zum Sherry-Netherland«, sagte er. Dann knallte die Tür zu.
Tony rief Jean Marie vom
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