Todesreigen
Verhaftungsprotokoll zu tippen, und dann den Täter – einen jungen Juwelendieb, der nach seiner Entdeckung eine Überdosis genommen hatte – zum Bellevue begleitete. Wahrscheinlich hatte er seinen ganzen Vorrat geschluckt, bevor Tony ihn zu fassen bekommen hatte, damit der Staatsanwalt zur Diebstahlsanklage nicht auch noch Drogenbesitz hinzufügte. Nun würde er nicht nur wegen Heroin oder Crack drangekriegt werden, nein, man hatte ihm außerdem noch mit einem Schlauch den Magen ausgepumpt. Manche Leute… oh, Mann.
Jedenfalls hatte der Cop wegen dieser Verhaftung den besten Teil seiner Schicht verpasst.
In der letzten Stunde seiner abendlichen Runde sorgte Tony Vincenzo regelmäßig dafür, dass er »zufällig« einen Block in den West Seventies umkreiste, in dem sich die New York Concert Hall befand, ein dunkelbraunes Auditorium aus dem letzten Jahrhundert. Das Gebäude war nicht besonders gut schallisoliert. Wenn er also in die Nähe eines Fensters kam, konnte er den Aufführungen leicht zuhören. Tony betrachtete dies als eine Art Vergünstigung seines Jobs. Und er fand, dass sie ihm zustand; von Kindesbeinen an hatte er Polizist werden wollen, aber nicht irgendein Streifenpolizist – sondern ein Detective. Das Problem war nur, dass er gerade Mitte zwanzig war und dass es heutzutage für einen jungen Mann wie ihn verdammt schwierig war, das Abzeichen mit dem goldenen Schild zu bekommen. Er musste wohl weitere vier oder fünf Jahre den langweiligen Streifendienst schieben, ehe man ihn überhaupt für die Kriminalpolizei in Erwägung zog.
Und solange er gezwungen war, seine Runden zu drehen, würde er sie auf
seine
Weise drehen. Mit ein oder zwei Vergünstigungen. Zum Teufel mit Gratis-Doughnuts oder Kaffee; er wollte Musik.
Die er fast so sehr liebte, wie er es liebte, Polizist zu sein.
Jede Art von Musik. Er besaß Squirrel-Nut-Zippers-CDs. Er besaß Tony-Bennett-LPs aus den Fünfzigern und Django-Reinhardt-Platten aus den Vierzigern. Er hatte Diana Ross auf Singles und Fats Waller auf 78er-Platten. Er besaß das Weiße Album der Beatles in jedem erdenklichen Format: CD, LP, Acht-Kanal-Band, Kassette, Tonband. Würde man es auf Rollen für automatische Klaviere verkaufen, dann besäße er auch davon ein Exemplar.
Tony liebte auch klassische Musik, schon seit seiner Kindheit. Was für jemanden, der in Brooklyn aufwuchs, durchaus eine riskante Angelegenheit war und einem, wenn man es zugab, nach der Schule auf dem Parkplatz ziemliche Prügel einbringen konnte. Diese Vorliebe hatte er von seinen Eltern übernommen. Seine Mutter hatte in der Leichenhalle die Orgel gespielt, bevor sie mit dem ersten von Tonys drei älteren Brüdern schwanger geworden war. Sie hatte den Job aufgegeben, aber zu Hause für die Familie im Wohnzimmer ihres Reihenhauses an der Forth Street weiter auf ihrem alten Klavier gespielt. Auch Tonys Vater kannte sich mit Musik aus. Er spielte Konzertina und Zither und hatte eine Sammlung von beinahe tausend LPs, überwiegend Opern und klassische italienische Lieder.
Als er an diesem Abend die Feuertreppe des Konzertsaals hinaufstieg, auf der er gern hockte, um den Aufführungen zu lauschen, hörte er das Finale einer Symphonie, auf das enthusiastischer Applaus und Begeisterungsrufe folgten. Auf dem Plakat konnte er lesen, dass das New American Symphony Orchestra aufgetreten war und dass es ausschließlich Mozart gespielt hatte. Tony schnalzte ärgerlich mit der Zunge. Er bedauerte es, das Konzert verpasst zu haben. Tony mochte Mozart; sein Vater hatte seine
Don-Giovanni
-LP so lange gespielt, bis sie völlig zerkratzt war. (Dabei ging der alte Mann im Wohnzimmer auf und ab, nickte zum Rhythmus der Musik und murmelte vor sich hin: »Mozart ist gut, Mozart ist gut.«)
Das Publikum verließ das Gebäude. Tony steckte ein Flugblatt mit der Ankündigung eines anderen Konzertes ein und beschloss, sich noch eine Weile beim Bühneneingang aufzuhalten. Manchmal bekam er Gelegenheit, mit den Musikern zu reden, was sehr aufregend sein konnte.
Er schlenderte bis zur Straßenecke, bog dann rechts ab und fand sich plötzlich mitten in einem Überfall wieder.
Sechs oder sieben Meter vor ihm stand ein junger Mann im Trainingsanzug und mit Turnschuhen. Er trug eine Skimaske und bedrohte mit einer Pistole, die aus der Tasche seines schwarzen Sweatshirts herausschaute, einen sehr gepflegten, großen Mann im Smoking – einen der Musiker, der ungefähr fünfundfünfzig Jahre alt sein mochte. Der Räuber
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