Todesrennen
den Vanderbilts getroffen.
Das Personal erkannte ihn hinter seinem grauen Bart jedoch nicht. Er nahm sich eine geräumige Suite in der obersten Etage und ließ sich das Abendessen aufs Zimmer bringen. Dazu trank er eine Flasche Wein und legte sich für einen unruhigen Schlaf mit seltsamen Träumen zur Ruhe.
Bei Tagesanbruch schreckte er hoch, geweckt von dem Klappern und Rasseln von Dreschmaschinen. Sein Herz klopfte, als er dem Quietschen der Räder lauschte, während die Wärter die Karren mit dem Frühstücksbrei durch die Gänge schoben, und auf das Klappern der Schöpflöffel im Kessel wartete. Erst nach und nach nahm er Einzelheiten aus seiner Umgebung wahr. Das Bett war weich, und im Zimmer herrschte Stille. Er blickte zu den offenen Fenstern, an denen sich weiße Vorhänge in einer warmen Brise bauschten. Dort waren keine Gitterstäbe zu sehen. Er befand sich also nicht im Irrenhaus. Sie hatten ihn auch nicht ins Waisenhaus zurückgeschafft. Ein Lächeln huschte über Harry Frosts Gesicht. Keine Dreschmaschinen. Flugmaschinen. Morgentraining in Belmont Park.
Er frühstückte im Bett, drei kurze Meilen von der Rennbahn entfernt, auf der Josephine und ihre neuen Bewunderer ihre Flugapparate für das Rennen herrichteten.
6
»Wo ist Josephine?«, wollte Isaac Bell von den Van-Dorn-Detektiven wissen, die das Tor zum Innenfeld des Belmont Park Race Track bewachten.
»In der Luft, Mr. Bell.«
»Wo ist Archie Abbott?«
»Drüben beim gelben Zelt.«
Bell war in einem gemieteten Pierce-Arrow nach Belmont hinausgefahren, um sich mit Josephine über die Gewohnheiten und die möglichen Helfer ihres Mannes zu unterhalten. Als einziger Mensch, der in den Jahren seines Einsiedlerlebens längere Zeit mit ihm verbracht hatte, hatte sie vielleicht sogar eine Idee, wo er sich verstecken könnte.
Bell erkannte sofort, dass Whiteway einen günstigen Ort für den Start des Luftrennens ausgewählt hatte. Das Innenfeld in Belmont war riesengroß. Umgeben von der längsten Pferderennbahn des Landes – anderthalb Meilen –, hatte es die Ausdehnung einer kleinen Farm. Fast zwanzig Hektar kurz geschorenen Rasens innerhalb der Rennbahn lagen im Blickfeld einer Tribüne, auf der Tausende zahlender Besucher Platz fanden. Das Feld hielt zahlreiche zweihundert Meter lange Graspisten bereit, auf denen die Maschinen Tempo aufnehmen konnten, um sich in die Lüfte zu schwingen und wieder zum Erdboden zurückzukehren, und bot darüber hinaus Platz für Zelte, im Eilverfahren errichtete Flugzeughangars, Lastwagen und Automobile. Der Bahnhof für die Hilfszüge befand sich auf der anderen Seite der Tribünen.
Bell atmete die Luft tief ein – eine berauschende Mischung aus verbranntem Öl, Gummi und Benzin – und fühlte sich sofort heimisch. Es roch genauso wie bei einem Rennwagen-Treffen, intensiviert durch den Geruch der Imprägnierungsflüssigkeit, mit der die Aviatoren ihre Maschinen behandelten, um den Stoff, der über die Rahmen gespannt war, zu festigen und wasserdicht zu machen. Es herrschte ein lebhaftes Durcheinander von Flugmaschinen und Mechanikern wie bei einer Automobilausstellung. Nur waren hier in Belmont die Augen der Zuschauer auf den strahlend blauen Himmel gerichtet.
Flugzeuge stiegen auf, kreisten durch die Luft und flitzten hierhin und dorthin – ungebändigt und ausgelassen wie Vögel, nur hundert Mal größer. Die unterschiedlichsten Formen in allen möglichen Abmessungen bevölkerten den Luftraum über der Rennbahn. Bell sah regelrechte Luftschiffe, drei Mal so lang wie Rennwagen, mit Flügelspannweiten von bis zu fünfzehn Metern, und dazwischen kleinere Maschinen, einige schwach und zerbrechlich anmutend, andere so schnell und wendig wie Libellen.
Der Lärm war aufregend, da jeder Motor seinen ganz eigenen Klang hatte. Da war das scharfe, abgehackte Knattern eines dreizylindrigen Anzani-Umlaufmotors, dann das raue Rumpeln einer Curtiss-and-Wright-Vierzylindermaschine, das gleichmäßige Blubbern der großartigen Antoinette V-8, das Bell bereits von Motorbooten kannte, und das übermütige Rattern der in Frankreich hergestellten Gnome-Omega-Umlaufmotoren, deren sieben Zylinder um eine Kurbelwelle rotierten und Wolken von Rizinusölrauch ausspuckten, der wie schwelendes Kerzenwachs roch.
Er fand Archie, indem er direkt auf ein vergleichsweise riesiges Zelt zuging, das in derselben gelben Farbe erstrahlte wie das Spruchband, das er im obersten Stockwerk von Whiteways Inquirer-Gebäude gesehen hatte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher