Todesritual: Thriller (German Edition)
der Staat – angenommen, sie sei nach Amerika zurückgekehrt.«
»Richtig.«
»Und die Dascals? Die wissen doch, wo sie ist.«
»Die Dascals wurden in einem der Berichte erwähnt, die ich gelesen habe. Aber sehr viel stand da nicht über sie. Nur ein paar Zeilen. Sie hatten ausgesagt, Vanetta sei todkrank.«
»Mehr nicht?«
»Nein.«
Sie beobachtete, wie ein kleiner Junge auf den Felsen kletterte und sich zum Sprung bereit machte, die Brust aufpumpte und sich die Arme ausschüttelte. Dann hüpfte er wie ein Spatz von einem Ast, blieb ganz kurz in der Luft hängen, den knochigen Körper kerzengerade, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, bevor er sich zusammenrollte, einen Salto machte und sich wieder zu einer geraden Linie streckte, die im Wasser verschwand.
»Verstehen Sie denn nicht, wie das läuft?«, fragte sie.
Max dachte eine Sekunde lang darüber nach. Länger, als er brauchte. Natürlich verstand er, wie das lief. Er hatte es genauso gemacht.
»Passend machen.«
»Wie bitte?«
»Ich kann Ihnen erzählen, wie das läuft«, sagte er. »Die offizielle Theorie, dass Vanetta Castro an die Amerikaner verraten hat, wurde von der Regierung in Umlauf gebracht, weil sie ihr in den Kram passt. Zumindest den Leuten, die sie in Umlauf gebracht haben.
Vanetta ist bei Castro in Ungnade gefallen. Sie hat sich hinter seinem Rücken mit Kriminellen eingelassen. Sie hat sein Vertrauen missbraucht. Für ihn ist sie also nichts mehr wert. Und sie steht auf der Fahndungsliste des FBI, mit einem großen Preisschild auf der Stirn. Dass sie sich mit einem FBI-Agenten getroffen hat, kann nur einen Grund haben: Sie will weg. Aber natürlich will sie nicht raus aus Kuba, um in Amerika in den Knast zu wandern. Also muss sie denen ein Geschäft vorgeschlagen haben.
Als sie von der Bildfläche verschwand, konnte es natürlich nur einen Ort geben, an den sie gegangen war – zurück zu den Imperialisten. Alles passt. Vanetta ist nicht da, um zu widersprechen, und so setzt die Version sich durch. Ergibt ja auch Sinn. Eine solide Geschichte. Überzeugend. Die Wahrheit interessiert niemanden. Mehr noch, die Wahrheit ist unbequem. Wenn die je ans Licht kommen würde, würden ein paar Leute ganz schön dumm dastehen. Sie würden ihr Haus verlieren, ihr Auto, ihre Extrarationen. Habe ich recht, Rosa?«
»Ja.« Sie rutschte auf ihrem Sitz herum.
»Und was denken Sie sich dabei, der offiziellen Version zu widersprechen? Ist ein riskantes Spiel für Sie. Wenn es in die Hose geht, wird niemand Sie je wiedersehen. Aber eine so kluge Frau wie Sie hat dafür natürlich eine Lösung gefunden. Sie sind wachsam, zuverlässig und effizient. Sie haben alles gesehen und alles bedacht. Sie haben nichts dem Zufall überlassen. Stimmt’s, Rosa?«
Sie antwortete nicht.
»Darf ich Sie was fragen?«
»Was?«
»Warum haben Sie eine Videokamera mitgenommen?«
Wieder keine Antwort. Nur ein tiefer, tiefer Atemzug.
»Ich kann Ihnen sagen, warum. Sie haben gar nicht vor, Vanetta Brown nach Havanna zurückzubringen. Das war nie der Plan. Sie wollen auf diese Insel, um beweisen zu können, wo sie sich wirklich aufhält«, sagte er. »Sie wollen sie filmen, wie sie auf dem Totenbett irgendein Statement abgibt. Eine kleine Rede, die die offizielle Version widerlegt, die Castro bislang glaubt. Und dann gehen Sie nach Havanna zurück – allein – und wollen sich durch Erpressung Ihre wertvolle Stellung wieder holen. Das ist der Plan, stimmt’s? Darum geht es hier. Ein größeres Haus, ein schickeres Auto, eine Extraportion Reis.«
Stille. Niemand sprang in den Fluss.
»Ich habe in sämtlichen Krankenhäusern des Landes nachgefragt, ob sie dort in Behandlung ist«, sagte sie. »Als ich sie nicht fand, wusste ich, dass sie in einer geheimen Einrichtung sein muss.«
»Und sie haben mich eingesetzt, um herauszufinden, in welcher – aus reinem Eigennutz.«
»Sie klingen enttäuscht.«
»Ich hatte mehr von Ihnen erwartet.«
»Warum? Sie haben einem Stricher vertraut.«
»Den Sie gerade haben laufen lassen, weil er ein Zeuge war, richtig? Dieser Blödsinn, den Sie mir gestern aufgetischt haben, von wegen er sei ein Schandfleck der Gesellschaft. Sie wollten ihn aus dem Weg haben.«
»Tut mir leid, Max«, sagte sie. »Aber was haben Sie erwartet, als ich Sie verhaftete – die Wahrheit?«
Jetzt war er an der Reihe zu schweigen. Eigentlich hätte er stocksauer sein müssen, rasend vor Wut, weil er aus so kleinkarierten Motiven benutzt worden war.
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