TODESSAAT
Schließlich kam sie ins Freie, und heller Sonnenschein blendete sie. Als ihre Augen sich daran gewöhnt hatten, sah sie Johnny auf der Lichtung im Innern des Hofes sitzen. Und sie sah die ...
... die Dinge, die er da hatte – zunächst jedoch, ohne sie wirklich wahrzunehmen, weil es ihr kindliches Fassungsvermögen überstieg, weil sie einfach nicht glauben mochte, was sie da sah. Schließlich ... aber nein, nein, das konnte unmöglich Moggit sein.
Moggit mit seinem schneeweißen Bauch und den schneeweißen Pfoten, seinem buschigen Schwanz und der Gesichtszeichnung, die aussah wie eine Lone-Ranger-Maske? Mit dem gepflegten, schwarz glänzenden Rückenfell, seinem schwarzen Hals und den schwarzen Ohren? Dieses gequälte, baumelnde Ding sollte Moggit sein? Carol fiel beinahe in Ohnmacht. Hinter einer verfallenen Mauer sank sie zusammen. Dabei stieß sie gegen einen Ziegelstein, und Johnny hörte es poltern. Sein Kopf ruckte herum, doch als er in Carols Richtung blickte, sah er sie zunächst nicht, nur die Ruinen auf der Lichtung, die dastanden wie immer. Dafür sah Carol ihn: sein aufgedunsenes Gesicht, die gefühllosen Augen, die ihm fast aus den Höhlen traten, und die blutigen, zu Klauen verkrümmten Hände. Sie sah, dass sein Taschenmesser aufgeklappt neben ihm auf der Mauer lag, auf der er saß, und sie sah den angespitzten Stock in seiner Hand. Die Spitze war ganz rot.
Und noch immer sah sie Moggit. Seine Hinterpfoten berührten gerade noch den Boden. Er tänzelte schwach, um sich aufrecht zu halten und das Gewicht nicht auf seinen Hals zu verlagern, um den eine dünne Drahtschlinge lag, die vom Ast eines Holunderbusches herabhing!
Ein tropfendes, gelbes Auge hing ihm an einem Nervenfaden auf die pelzige, feuchte Wange herab und tanzte genau wie er hin und her. Sein praller, weißer Bauch war dünn geworden und jetzt auch rot, wo er aufgeschlitzt worden war, um ein Knäuel glänzender schwarzer, roter und gelber Eingeweide hervorquellen zu lassen!
Und Moggit war noch nicht alles. Von weiteren Ästen hingen zwei der Lieblingstauben ihres Vaters mit völlig verdrehten Flügeln schlaff herab. Ein Igel lebte zwar noch, hatte aber einen rostigen Eisendorn in der Seite, der ihn an den Boden nagelte, sodass er in nicht enden wollenden Todesqualen immer wieder benommen im Kreis herumtorkelte. Er schnaufte entsetzlich. Es gab noch weitere Dinge, aber Carol wollte nichts mehr sehen.
Beruhigt, dass niemand da war, wandte Johnny sich wieder seinem »Spiel« zu. Carol standen die Tränen in den Augen, als sie sah, wie er aufstand, eine tote Taube in die Hand nahm und seinen Stock mitten durch den kalten Körper stieß. Er führte den Stock beinahe so in das gefühllose Fleisch ein, als sei es ... als sei es gar nicht empfindungslos! Als glaube er tatsächlich, das verdreckte, starre, zerbrochene Ding könne es fühlen. Die ganze Zeit über lachte er, murmelte vor sich hin und redete auf diese armen, gequälten, toten Kreaturen ein, ohne dass ihn ihre Qualen kümmerten. Seine Schwester begriff jetzt in der Tat etwas vom Wesen seines Spieles: Nachdem Johnny etwas Lebendiges zu Tode gequält hatte, konnte er nicht ertragen, dass es ihm entkommen war. Deshalb folterte er es im Dunkel der anderen Welt einfach weiter!
Damit war sie die Erste, die die Wahrheit über ihren Adoptivbruder erfuhr, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Denn da sie selbst noch ein Kind war, erkannte sie die Fantasien eines Kindes, wenn sie welche sah. Ebenso wusste sie, dass Johnny nur ein unausstehlicher, grausamer kleiner Junge war, und dass das, was sie sich da einbildete, einfach nicht sein konnte.
Aber Moggit, der arme Moggit! Schließlich begriff Carol, dass Johnny tatsächlich dabei war, ihren geschundenen, halb ausgeweideten Kater langsam aufzuhängen. Sie konnte es nicht länger mit ansehen.
»Moggiiiit!«, schrie sie aus Leibeskräften, und: »Johnny, ich hasse dich – oh, wie ich dich hasse!«
Sie stand auf, stolperte, fing sich wieder und ging mit dem kantigen Stück eines Ziegelsteins in der Hand auf ihn los. Johnny erblickte sie endlich, und aus seinem rot gefleckten Gesicht wich auf der Stelle jede Farbe. Er griff nach seinem Taschenmesser – nicht, um es gegen sie zu verwenden, sondern in einer ganz anderen, vielleicht sogar schlimmeren Absicht – und machte sich daran, das Stück unzerreißbarer Drachenschnur durchzuschneiden, das Moggits Ast niederhielt. Einzelne Fäden gingen entzwei, nicht jedoch die Schnur. In
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