TODESSAAT
geheimnisvollen, einsamen Spiele zu spielen.
Johnny konnte mit seiner Zeit anfangen, was er wollte, keiner machte ihm Vorschriften. Schließlich hatte er Sommerferien. Er hatte »Dinge« zu erledigen. Für gewöhnlich trieb er sich in den Hecken hinter der Gartenmauer herum, da, wo sie in Wiesen und Ackerland übergingen, das sich weit nach Norden und Nordwesten erstreckte. Doch er war jedes Mal sofort zur Stelle, wenn man etwas von ihm wollte (normalerweise genügte ein lauter Ruf, um ihn nach Hause zu holen), und er achtete immer darauf, pünktlich zum Essen zu kommen.
Was er da draußen den ganzen Tag über eigentlich machte, stand auf einem anderen Blatt. Wenn seine Pflegeeltern ihn fragten, antwortete er nur: »Spielen.« Das war alles. Aber Carol wollte wissen, was er da spielte. Es ging ihr nicht in den Kopf, dass er irgendetwas interessanter finden konnte als den Pool. Deshalb schlich sie auf Zehenspitzen am Schlafzimmer ihrer Eltern vorbei und folgte ihm hinaus in den frühen Morgen, wo die Dämmerung erst vor kurzem als goldener Streif am Horizont erschienen war.
Johnny ging an dem unter seiner Polyäthylen-Blase liegenden Swimming-Pool vorüber bis zur Gartenmauer. An der üblichen Stelle kletterte er auf die hohe Mauer, sprang die letzten paar Meter auf der anderen Seite hinunter und machte sich an der wuchernden Hecke entlang auf in das Labyrinth der im Morgenlicht glänzenden Felder. Carol folgte ihm auf dem Fuß.
Eine halbe Meile weit in den Feldern stießen zwei uralte, tief ausgefahrene, von Unkraut überwucherte Feldwege aufeinander. Dort lag, unter blühenden Brombeersträuchern und Brennnesselgebüsch verborgen, die Ruine einer verfallenen Farm. Zerklüftete, von grauen Flechten überzogene Mauerreste und die Stützmauer eines alten Kamins ragten als schwankende Steinhaufen in den Himmel. Johnny ging quer über eine Wiese. In dem hohen, wogenden Gras war nur sein dunkler, schweißglänzender Kopf zu sehen.
Von einem stillgelegten Weideübergang aus, auf dem sie unsicher balancierte, sah Carol, wohin er wollte, und beschloss, ihm nachzugehen. Offensichtlich war die alte Ruine das Versteck, in dem Johnny seine geheimen Spiele spielte. Von nun an würden sie die längste Zeit geheim gewesen sein.
Als seine Schwester keuchend aus der Wiese auftauchte, war Johnny irgendwo zwischen den eingestürzten, unkrautüberwachsenen Mauern verschwunden. Sie zögerte einen Moment, blickte um sich, den ausgefahrenen Weg entlang, der einst zur Farm geführt hatte, und setzte dazu an, ihn zu überqueren, um zu der Ruine zu gelangen ... und hielt inne!
Was war das? Ein Schrei! Da schrie eine Katze! Moggit?
Moggit! Carol schlug die Hand vor den Mund und hielt vor Überraschung den Atem an. Der arme, kleine Moggit, allein und verlassen irgendwo in diesem zerfallenden, alten Steinhaufen? Vielleicht war es das, was Johnny hierher gelockt hatte: Moggits Miauen, der in irgendeinem Loch feststeckte, gefangen und kurz vor dem Verhungern in dieser zerbröckelnden Ruine.
Carol überlegte, ob sie rufen sollte, um auf Moggits seltsam erstickte Schreie zu antworten und ihm vielleicht ein bisschen Hoffnung zu geben. Doch dann dachte sie: Nein; denn das würde nur dazu führen, dass er sich umso mehr anstrengte und womöglich noch tiefer in die Klemme geriet. Vielleicht schrie er ja nur so erbärmlich und eindringlich, weil Johnny bereits dabei war, ihn zu befreien.
Mit angehaltenem Atem ging Carol über den festgetretenen, staubigen Feldweg auf etwas zu, was früher wohl einmal die Zufahrt durch die hohen Mauern, die den Hof umschlossen, zu den sich dahinter drängenden Gebäuden gewesen war. Jetzt war die Lücke nichts als ein Haufen eingestürzter Steine, die unter Brombeeren und rankendem Efeu verschwanden, dazwischen ein paar Haselsträucher und in die Höhe schießender Holunder, die unter parasitärem Grün erstickten. Carol folgte einem Pfad, den jemand – sie nahm an, Johnny – deutlich erkennbar durchs Unterholz gebahnt hatte. Unter jedem ihrer Schritte gaben Schutt und zerbrochene Ziegelsteine nach.
Der Weg, der durch das Laubwerk ins Innere führte, war staubig und voller Spinnweben, beinahe schon ein Tunnel. Kein Licht fiel herein. Mit ihren sieben Jahren glaubte Carol, sie müsse ersticken, als sie sich hindurchzwängte. Aber sobald sie ans Aufgeben dachte, trieben Moggits Schreie sie weiter (sie war sicher, dass es Moggit sein musste, auch wenn sie gleichzeitig darum betete, dass er es nicht sei).
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