TODESSAAT
war. Doch obwohl der Necroscope von sich selbst, seinem eigenen Leben träumte, kam es ihm dennoch so vor, als träume er von jemand anderem.
Schließlich erschien ihm sein Sohn, ein Wolf ... Nur dass dies wirklich war und nicht bloß eine Erinnerung an eine andere Welt. Im Traum kam sein Sohn zu ihm, mit heraushängender Zunge, und sagte: Vater, sie kommen!
Harry war mit einem Schlag wach. Vorsichtig erhob er sich aus Karens Bett, glitt geschmeidig an die Laibung des Fensters und schlug die Vorhänge zurück. Er war auf der Hut und hielt sich so weit wie möglich zur Seite, bereit, seine Hand, sollte es notwendig sein, augenblicklich zurückzuziehen. Doch das war überflüssig, denn es war Sonnunter. Schatten krochen den Gebirgszug entlang, verdüsterten die golden glänzenden Gipfel. Zunächst kaum sichtbare Sterne funkelten von Sekunde zu Sekunde heller. Das Dunkel war angebrochen und wurde immer dunkler.
Karen schrie im Schlaf auf, erwachte und fuhr mit einem Ruck aus dem zerwühlten Bett hoch. »Harry!« Ihr Gesicht war leichenblass – weiß wie ein Laken, nur die Augen und der Mund wollten nicht recht dazu passen. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Doch dann sah sie den Necroscopen am Fenster stehen, und ihre Augen begannen zu glühen. »Sie kommen!«
Sie blickten einander tief in die Augen und lasen gegenseitig in ihren schlaftrunkenen Gedanken. Trotzdem erwiderte Harry laut: »Ich weiß.«
Vollkommen nackt stand sie auf, warf sich in seine Arme und presste sich eng an ihn. »Aber sie sind schon unterwegs!«, schluchzte sie.
»Ja, und wir werden sie besiegen«, knurrte er. Als er sie spürte und den Moschusgeruch wahrnahm, der von ihr ausging, reagierte sein Körper völlig ohne sein Zutun. Sie war weich und glatt und biegsam und an den richtigen Stellen feucht, als er in sie eindrang.
Ihre Muskeln umschlossen ihn, und sie stöhnte: »Lass es uns so gut machen wie noch nie, Harry.«
»Weil es das letzte Mal sein könnte?«
»Nur für den Fall«, seufzte sie, während sie in ihrem Innern Widerhaken ausbildete, um ihn tiefer in sich hineinzuziehen. – Es wurde so gut wie nie zuvor. Danach waren sie viel zu erschöpft, um sich noch vor irgendetwas zu fürchten ...
Später sagte er: »Was, wenn wir ihnen unterliegen?«
»Unterliegen?« Karen stand neben ihm. Arm in Arm blickten sie aus einem Fenster, das nach Norden ging, in Richtung der Eislande. Bislang war noch nichts zu sehen. Das hatten sie auch nicht erwartet. Aber sie konnten etwas ... spüren. Als habe jemand einen Stein in eine Pechgrube geworfen, breitete es sich in zähen, düsteren, bösen Wellen von Norden her aus.
Harry nickte bedächtig. »Wenn wir unterliegen, können sie mich lediglich töten.« Er dachte an Johnny Found und daran, was er seinen Opfern angetan hatte. Schreckliche Dinge. Doch verglichen mit Shaithis und jedwedem anderen Überlebenden der Alten Wamphyri war Johnny Found nur ein Waisenknabe, dem es an Fantasie mangelte.
Karen wusste, warum der Necroscope seine Gedanken vor ihr verbarg: um sie zu schützen. Doch seine Bemühungen waren vergeblich, denn sie kannte die Wamphyri wesentlich besser als er. Nichts, was Harry je ersinnen könnte, käme dem wahren Ausmaß ihrer Grausamkeit auch nur nahe. Das jedenfalls war Karens Meinung. Deshalb gab sie ihm das Versprechen: »Wenn du stirbst, sterbe ich auch.«
»Oh? Und sie werden dich einfach so sterben lassen, nicht wahr? Glaubst du das?«
»Sie können mich nicht aufhalten. Auf dieser Seite des Gebirges herrscht Sonnunter, aber jenseits von Sunside ... erwartet jeden Vampir der endgültige Tod. Er brennt wie geschmolzenes Gold vom Himmel herab. Dahin würde ich fliehen, weit über die Berge in die Sonne hinein. Sollen sie mir doch dorthin folgen, wenn sie es wagen. Ich habe keine Angst davor. Ich weiß noch, wie angenehm sich die Sonne auf der Haut angefühlt hat, als ich ein Kind war. Ich bin mir sicher, dass ich es zum Schluss, ehe ich sterbe, schaffen werde, sie wieder so zu spüren wie damals. Ich werde mich einfach dazu zwingen!«
»Du siehst das alles zu düster.« Harry richtete sich auf und schüttelte sich. »Viel zu düster. Wenn du so weitermachst, haben wir verloren, bevor wir überhaupt angefangen haben. Zumindest eine Chance zu gewinnen müssen wir doch haben. Mehr als das sogar. Können sie etwa nach Belieben wie ein Gespenst im Möbius-Kontinuum verschwinden?«
»Nein, aber ...«
»Aber?«
»Wo wir auch hingehen« – sie zuckte die Achseln – »und
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