TODESSAAT
dass der Parasit sich in ihm befand, denn es schien ihn auf eigenartige Weise zu fiebern, sodass er ständig nervös und misstrauisch war. Er war ein Mann, der einen Vulkan in sich trug, der jedoch momentan nur leicht grollte und etwas Dampf ausstieß. Da er nicht wusste, wann ein Ausbruch erfolgen würde, konnte er sich niemals entspannen, sondern musste andauernd wachsam sein und auf das Grollen in seinem Innern lauschen.
Einerseits hätte Harry ja gern seine Wamphyri-Fähigkeiten bis zum Letzten erprobt, doch damit hätte er den gesamten Prozess nur beschleunigt. Denn eines war sicher: Mochte sein Gast auch noch so unreif sein, er wuchs dennoch schnell heran und lernte rasch. Der Parasit in seinem Körper und Geist war gewiss hartnäckig, aber Harry ebenfalls. Sein Sohn hatte es doch auch geschafft, seinen Vampir unter Kontrolle zu bringen. Also würde der Vater sein Bestes tun, dem Sohn nachzueifern.
All das war an sich schon schwierig genug, auch ohne dass das E-Dezernat ihm misstraute, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Harry ein gewisses menschliches Ungeheuer zur Rechenschaft ziehen musste, sofern er es endlich aufzuspüren vermochte.
Früher hätte er seine Gedanken geordnet, indem er beispielsweise Notizen gemacht hätte, um Prioritäten herauszuarbeiten. Doch die ständige Verwirrung und Erschöpfung machten ihn oft unfähig, aktiv in das Geschehen einzugreifen. Was wiederum Frustration und Ärger mit sich brachte und damit die Warnung vor dem Sturm, der in seinen aufgewühlten Gefühlen bald losbrechen würde.
Harry spürte, wie eine ausgeprägte Gewalttätigkeit dicht unter der Oberfläche seines Bewusstseins brodelte. Es war tatsächlich seine Brutalität, die da kochte, denn der Vampir in ihm war weder gewalttätig noch gefühlsintensiv: Er verstärkte lediglich diese Eigenschaften in seinem Wirt.
Am meisten frustrierte ihn die Gewissheit, dass nichts, was er unternahm oder unternehmen würde, falls er die Kraft dazu fände, für sein Überleben als Person eine Rolle spielte. Ein anderer würde sich in dieser Lage bemühen, eine neue Identität anzunehmen, an einen sicheren Ort umzuziehen, um alle Gefahrenquellen auszuschließen.
Wäre er dazu in der Lage? Er hatte Pythagoras ja selbst gezeigt, wie klein die Welt geworden war. Jeder in seiner Lage wäre ein Wamphyri und hätte starke territoriale Interessen. Dies war seine Welt, das Haus unweit von Edinburgh sein Haus, seine Gedanken und Handlungen allein seine Angelegenheit – jedenfalls meistens, und vor allem, wenn ihm andere nicht hinterherschnüffelten.
Gestern war er in der Ruine der Burg Ferenczy gewesen und hatte sich mit Bodrogk, dem Thraker, unterhalten. Bodrogk und er kannten sich erst seit kurzer Zeit, und so akzeptierte ihn der Thraker als das, was er jetzt war. Außerdem kannte Bodrogk keine Furcht, weder vor dem Necroscopen, noch vor sonst einem Menschen. Seine Asche und die seiner Frau Sofia waren in alle Winde zerstreut, und nur ihre Geister verblieben in den Karpaten. Nichts Irdisches konnte ihnen mehr Schaden zufügen.
Harry hatte ihn in erster Linie fragen wollen, welche chemischen Zutaten zu Janos Ferenczys nekromantischer Mischung gehört hatten. Er wollte Trevor Jordan und Penny Sanderson aus ihren körpereigenen Salzen wieder zum Leben erwecken, aber nur, falls er sie so perfekt wie möglich wiederherstellen konnte. Bodrogk war eine Autorität auf diesem Gebiet, da er ja selbst solchen Experimenten ausgesetzt gewesen war. Trotzdem erkundigte er sich zuerst ausführlich, zu welchem Zweck der Necroscope diese Kenntnisse nutzen wollte, bevor er sein Wissen preisgab.
Und so war Harry heute bereit, ein echter Nekromant zu werden, und er hätte das Experiment auch durchgeführt, wäre er nicht im letzten Moment unsicher geworden. Schließlich bemerkte er, dass sich Geoffrey Paxton offensichtlich in der Nähe befand und ihn beobachtete. Da ihm klar war, dass Paxton versuchte, ihm genau solch eine widernatürliche Tätigkeit nachzuweisen, hatte er das Experiment verschieben müssen. Anschließend hatte er – vor Wut bebend – mit Darcy Clarke im Hauptquartier des E-Dezernats gesprochen.
Es hatte ihn erleichtert, zu erfahren, dass Paxton nicht Darcys Mann war – aber wer hatte ihn dann auf ihn angesetzt? Vielleicht würde Darcy das für ihn herausfinden, vielleicht aber auch nicht. Früher oder später hätten sich seine Gegner ohnehin zusammenschließen müssen, einschließlich des E-Dezernats, um ihn zu bekämpfen.
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