TODESSAAT
schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: Vielleicht ... sollten wir eine Pause einlegen. Seine mentale Stimme bebte vor Furcht. Harry spürte seine Angst, die Angst eines toten Mannes. Und tief drinnen, wo nicht einmal Jordan zu lauschen vermochte, sagte er sich: Mein Gott! Selbst die Toten beginnen mich zu fürchten!
Er stand abrupt auf, sodass sein Stuhl beinahe umgefallen wäre. Dann blickte er durch den Spalt im Vorhang hinaus über den Fluss und in die Nacht. Genau in diesem Moment riss jemand am gegenüberliegenden Ufer ein Streichholz an, um sich eine Zigarette anzuzünden. Harry sah den plötzlichen Lichtschein nur einen Augenblick, dann wurde er von einer vorgehaltenen Hand verdeckt.
»Der Bastard steht dort drüben und lauscht!«, sagte Harry leise, mehr zu sich selbst.
Jordan war jedoch noch immer viel zu erschrocken, um ihm zu antworten.
FÜNFTES KAPITEL
Um Mitternacht kochte Harry innerlich noch immer.
Er aktivierte Wellesleys Gabe, schlich hinaus in den Garten und den Pfad entlang bis zu der alten Pforte in der Gartenmauer, die schief in ihren rostigen Angeln hing. Die Nacht war seine Freundin, und wie eine Katze verschmolz er mit den Schatten und wurde nahezu unsichtbar. Mit seinen nachtsichtigen Augen vermochte er deutlich die reglose Gestalt unter den Bäumen zu erkennen, den Floh, der seinen Verstand juckte: Paxton.
Allein dieser Name wirkte wie Gift auf ihn beziehungsweise auf das Geschöpf, das in ihm heranwuchs. Denn Harrys Vampir erkannte die Bedrohung ebenso wie der Necroscope, wenn er auch anders damit umgehen würde, sofern Harry das zuließ.
»Paxton«, hauchte er in die Nachtkühle hinein. Wie ein dünner Schleier senkte sein Atem sich über den Weg und umspielte seine Beine. Das düstere Wesen des Wamphyri beherrschte ihn nun beinahe völlig. »Du kannst mich nicht hören, du Bastard, oder?« Er atmete Dunst aus, der sich den überwucherten Flusspfad entlang bis zum schimmernden Wasser kräuselte. »Du kannst meine Gedanken nicht spüren; du weißt nicht einmal, dass ich da bin, stimmt’s?«
Doch mit einem Mal war da eine gurgelnde, monströse Stimme in Harrys Verstand – unverkennbar Faethor Ferenczy: Statt sich in die Schatten zurückzuziehen, wenn du ihn in der Nähe spürst, solltest du dich ihm nähern! Er will in deine Gedanken eindringen? Dringe stattdessen in seine ein! Er erwartet, dass du ihn fürchtest, also sei kühn! Und wenn er den Mund aufreißt, um dir die Zähne zu zeigen, dann dringe in ihn ein, denn innen drin ist er weicher!
Es war eine Stimme aus einem Albtraum, doch eine, die Harry selbst aus seinen Erinnerungen hervorgezerrt hatte. Denn Wellesleys Gabe machte jegliches Eindringen in seine Gedanken unmöglich, und Faethor war ohnehin irgendwo in der Zukunft für immer verloren.
Der Vater so mächtiger Vampire hatte damals über seinen leiblichen Sohn Janos gesprochen, doch es schien dem Necroscopen, dass seine Methoden in diesem Falle hier durchaus anwendbar seien. Vielleicht war es auch nur das Ding in ihm, das dies annahm. Paxton befand sich hier, um zu beweisen, dass Harry ein Vampir war. Da er ja tatsächlich einer war, gab es keine Möglichkeit, das Gegenteil zu beweisen. Aber sollte er deshalb einfach stillsitzen und die Folgen von Paxtons Berichten abwarten? Es drängte ihn, dem Gedankenspion eine kleine Lehre zu erteilen.
Natürlich durfte er ihn nicht einfach umbringen! Der bloße Gedanke daran beschwor Visionen von Blut herauf, die er schnellstens wieder loswerden musste!
Er trat hinter die Tür in der alten Gartenmauer zurück, beschwor ein Möbiustor herauf, trat hindurch ... und kam auf einer kleinen Nebenstraße wieder heraus, die am jenseitigen Ufer parallel zum Fluss verlief. Niemand war zu sehen. Der Himmel war wolkenverhangen, und durch die Bäume sah er den Fluss, der sich wie ein Band geschmolzenen Bleis zwischen den Uferböschungen dahinwand.
Ein Auto, Paxtons Wagen, stand unter niedrig hängenden Zweigen teilweise verborgen halb auf, halb neben der Straße. Es war ein neues und recht teures Modell. Die Karosserie glänzte in der Dunkelheit. Türen und Fenster waren geschlossen. Die Motorhaube wies einen sanften Hang hinab in Richtung einer Kurve, hinter der die Straße in die Hauptstraße nach Bonnyrig einmündete.
Harry wich von dem mit Schlaglöchern übersäten Asphalt in die Deckung zurück, die ihm die Bäume boten, und die Nebelschwaden folgten ihm. Oder besser – denn in ihm hatten sie ja ihren Ursprung: Sie wallten vom
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