TODESSAAT
»Meine Erinnerungen wurden mir allesamt genommen, als sie mich vertrieben haben.«
»Kein Andenken ist übrig geblieben an das, was Ihr gemacht habt, wer und wie Ihr wart?«
Abermals glitt das Ding näher, und abermals wich Shaithis einen Schritt zurück, allerdings keinen allzu großen, weil er fürchtete, aus dem eigenen Traum herauszutreten. »Nur mein Name ist mir geblieben, und das Wissen darum, dass ich eitel, stolz und schön war«, sprach Shaitan weiter und beschwor weitere Echos aus dem vorherigen Traum herauf. »Doch das war vor langer Zeit, mein Sohn, und mit der Zeit verändert sich alles. Auch ich habe mich verändert.«
»Verändert?« Shaithis bemühte sich, zu verstehen, was er meinte. »Ihr seid also nicht mehr eitel und stolz? Wo doch selbst der Geringste der Wamphyri ebendiese Laster kennt – und sie genießt. So wird es auch immer bleiben.«
Bedächtig schüttelte Shaitan seinen von der Kapuze verhüllten Kopf. Shaithis erkannte das lediglich an der Bewegung der karmesinroten Augen in ihren schwefligen Höhlen – den einzigen Körperteilen der Kreatur, die nicht hinter dem schlammigen, tintenschwarzen, undurchdringlichen mentalen Schutzschild verschwanden. »Ich bin nicht länger schön«, sagte Shaitan.
»Aber so ergeht es uns doch allen«, erwiderte Shaithis. »Wir alle wissen, dass wir nicht schön anzusehen sind, und akzeptieren es. Und überhaupt, was hat Schönheit, was unsere Macht nicht aufwiegt? Einige von uns pflegen gar ihr widerwärtiges Äußeres und verklären es so geradehin zum Maßstab unserer Macht!« Völlig unbeabsichtigt dachte er dabei an Volse Pinescu.
Shaitan erblickte dieses Bild klar und deutlich in seinem Verstand. »Aye, der war ekelhaft. Doch immerhin hat er es so gewollt. Ich wollte es nicht. Und mögen die Wamphyri an Körper und Geist auch schrecklich sein, so sind sie vergleichsweise dennoch schön .« Ein drittes Mal rückte er näher.
Doch nun blieb Shaithis stehen, nur seine Rechte tastete nach dem Handschuh. Es war ein Traum, zugegeben, trotzdem wollte er nicht jede Kontrolle aufgeben. »Habt Ihr vor, mir Schaden zuzufügen?«, fragte er geradeheraus.
»Im Gegenteil!«, antwortete der andere, »denn es liegt ein langer Weg vor uns, den wir gemeinsam gehen müssen. Aber diese meine Kunst ist doch sehr anstrengend. Es wäre leichter für mich, wenn du mich sehen könntest, wie ich bin.«
»Also zeigt Euch mir.«
»Ich bin dabei, dich darauf vorzubereiten«, sagte Shaitan.
»Genug damit!«, rief Shaithis. »Ich bin vorbereitet!«
»So sei es!«, sagte sein Ahn und lockerte seinen hypnotischen Griff.
Was Shaithis dann erblickte, traf ihn wie ein Schock. Zum zweiten Mal erwachte er aus seinem Schlaf, und es kam ihm so vor, als habe der Vulkan selbst sich unter ihm aufgetan. Keuchend sprang er in seiner Nische auf, die Augen geweitet und nach dem düsteren Traum überrascht von der Helligkeit, die in der Eisburg herrschte. Er fröstelte innerlich – weit mehr von dem, was das Finstere Ding ihm in seiner felsigen Höhle offenbart hatte als von jeder äußeren, rein körperlichen Ursache. Und weil dieser Traum mehr als nur ein Traum gewesen war, eine Heimsuchung nämlich, verblasste er auch nicht und kehrte nicht zurück in irgendeinen Vorhof seines Unterbewusstseins, sondern stand so klar und deutlich vor seinem geistigen Auge wie die Siegel auf den Bannern und Wimpeln, die von einer Felsenfeste flattern.
Shaithis, selbst ein Ungeheuer in jeder Beziehung, war keinesfalls leicht zu erschrecken. Was die Wamphyri betraf, so galten Begriffe wie Angst oder Grauen wenig mehr als nichts; für sie waren es leere, hohle Worte, und pure Raserei machte sie allesamt wett. Selten wurde im Organismus eines Vampirs Adrenalin freigesetzt, um ihn zur Flucht zu ermutigen oder zu befähigen; üblicherweise löste dieses Hormon nur seine animalischen Leidenschaften aus, sodass er sich stets zum Kampf stellte – und zwar bösartig und brutal. In den langen Jahrhunderten ihrer Souveränität hatte sich unter den Vampiren Starsides das Bewusstsein ihrer Überlegenheit ausgebreitet; denn es war schlicht und einfach unstrittig, dass sie von allen Geschöpfen ihrer Welt die bei weitem dominanteste Spezies darstellten. Gerade so, wie der normale Mensch seine Welt dominierte.
Doch blieb die Tatsache bestehen, dass Shaithis einst ein normaler Mensch gewesen war – ein Traveller, von Shaidar Shaigisgezücht vampirisiert und mit einem neuen Namen versehen. Damit hatte dieser
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