TODESSAAT
ihn zu seinem obersten Statthalter oder Sohn gemacht und ihm sein Ei gegeben – und die ultimative Erfahrung, was wirkliche Angst bedeutet. Selbst heute, ein halbes Jahrtausend danach, erinnerte er sich noch daran, wenn auch nur im Schlaf. Denn ganz gleich, wie grässlich sich ein Mensch entwickeln mag, die Dinge, die ihn als Jugendlichen geängstigt haben, werden ihn bis in alle Ewigkeit in seinen Träumen heimsuchen. Was war es nun, was Shaithis in jenen frühen Tagen nach seiner Entführung aus Sunside das Fürchten gelehrt hatte? In einer Zeit, die fünfhundert Jahre in der Vergangenheit lag, bevor Lord Shaidar ihm hustend und würgend das scharlachrote Ei in die Gurgel spie und sein Leben damit für immer veränderte? Die größte Angst hatten ihm zweifellos die zahlreichen abnormen Monstrositäten in Shaidars Felsenhorst eingejagt! Die knorpeligen Kreaturen und Gas-Bestien, die unvorstellbaren menschlichen Wasserleitungen, die riesengroßen Bottiche in den unteren Stockwerken der Feste, in denen Trogs und Travellers gleichermaßen zu Flüglern oder Kriegern gemacht wurden oder zu noch weit grässlicheren Auswüchsen von Shaidars Experimenten. Denn dieser Vampirmeister hatte sein Vergnügen darin gefunden, Shaithis (zu jener Zeit noch ein junger, unschuldiger Traveller) auch die albtraumhaftesten Schöpfungen vorzuführen und ihn mit der halbgaren Drohung zu quälen, dass eines Tages auch er ein schuppengepanzerter, rautenschädliger Flieger sein mochte oder gar eine schwammig-breiige menschliche Wasserleitung.
In seinen frühen Tagen als Wamphyri-Anwärter waren derartige Entstellungen und Abnormitäten stets Vorboten von Shaithis’ schlimmsten Albträumen gewesen. Doch während er bis in den Thronsaal der Felsenburg aufstieg, lernte er, solche Ängste zu verdrängen. Zudem waren sie dem Vampir in ihm unterlegen, der ihm recht bald anbot, selbst Monstren herzustellen – eine Kunst, in der er sich hervortun sollte. Seine geflügelten Bestien wurden als die sonderbarsten und graziösesten gerühmt, seine Kriegerkreaturen waren wild und unvorstellbar grausam, und seine anderen Schöpfungen und Experimente waren ... mannigfaltig. Nur in den Träumen, die aus seiner Jugend stammten, erinnerte er sich noch seiner Angst. Doch selbst die lebhaftesten und furchtbarsten darunter waren nichts im Vergleich zu dem, was ihm das Finstere Ding gezeigt hatte.
»Hässlich«, hatte Shaitan sich selbst genannt, doch hässlich ist nicht gleich hässlich . Und was Kreuzungen anbetraf ...
Shaithis hatte das Ding vor Augen, das ihm gegenüberstand, kaum dass sein Vorfahr den hypnotischen Zwang gelockert hatte, um sich ihm zu zeigen, wie er wirklich war: eine Scheußlichkeit, die nicht einmal der widernatürlichste oder irrsinnigste Wamphyri für möglich gehalten hätte ... umso entsetzlicher, als sie wirklich existierte. Es war ... was? Eine Schnecke, ein Blutegel – jedoch so groß wie ein Mensch! Eine runzlige, glänzende Schwärze, hier und da grau-grün gesprenkelt; und aufrecht stehend. Ein Vampir, ja, wie er sich aus einem Ei in einem Mann oder einer Frau entwickeln würde ... jedoch über jedes vernünftige Maß hinaus gewachsen – nein ... gewuchert. sodass Shaithis sich unwillkürlich gefragt hatte: Aber – wenn dies in einem menschlichen Wirt herangewachsen ist – was ist dann aus dem Unglücklichen geworden?!
Noch während das bizarre, jedoch hauptsächlich vage Abbild des Dings (vage gemacht durch die Ekel erregende, schwer zu beschreibende Zusammenstellung) sich in seinen Verstand einbrannte, fiel ihm die eine oder andere Einzelheit auf, die allein genügt hätte, ihn im nächsten Moment schreiend aus dem Schlaf zu reißen.
Das Ding (nein, er durfte es nicht nur als Ding ansehen, schließlich handelte es sich doch auch um Shaitan, seinen Vorfahren!) ... hatte gallertartige Gliedmaßen. Einige davon endeten in zuckenden, mit Saugkolben versehenen Tentakeln, andere wiederum in verkümmerten menschlichen oder tierischen Teilen: mumifizierten Händen und dürren, verzerrten Füßen und sogar einer schimmernden Knochenklaue. Ebendiese Gliedmaßen wie auch Shaitans flaches Gesicht und der entsetzliche, schaufelförmige Kobraschädel widerten Shaithis am meisten an und ließen seine lange vergessene Angst wieder aufleben.
Denn er wusste, das Zwitterwesen, das er hier vor Augen hatte, war nicht den Experimenten eines Wamphyri-Lords entsprungen, sondern der Natur selbst; oder vielmehr der un natürlichen Zähigkeit
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