Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
schmerzhaft deutlich, wie sehr er sich zu Hause langweilte. Jedenfalls hätten die wenigsten jungen Männer bei der Aussicht auf einen Termin mit einer Anwältin vor Freude Luftsprünge gemacht.
»Danke, dass Sie hergekommen sind«, sagte Dóra und hoffte, dass er spürte, wie wichtig ihr seine Hilfe war. Sie kannte sonst keinen Seemann, den sie hätte fragen können, und ein Seemann mit Beinbruch, der an Land festsaß und die Yacht ein wenig kannte, war ein Geschenk des Himmels.
»Das ist sehr wichtig für mich, aber Sie müssen mir natürlich nicht helfen«, sagte sie lächelnd.
Das Häufchen Elend auf dem Stuhl gegenüber richtete sich ein wenig auf. Snævar war gepflegter als bei seinem letzten Besuch, trug einen geschmackvolleren Pullover, war frisch rasiert und hatte keine Frisur mehr wie ein Soldat auf Kriegszug. Nur die verschlissene Jogginghose war noch dieselbe.
»Nein, kein Problem. Ich langweile mich zu Hause und bin froh, wenn ich einen Grund zum Rausgehen habe. Ich würde mir nur wünschen, dass ich eine größere Hilfe wäre.«
»Ich bin ja noch gar nicht fertig«, entgegnete Dóra und merkte, dass sie ihm keinen Kaffee angeboten hatte. Er schien gut eine Tasse gebrauchen zu können, trotz seines gepflegten Äußeren war er ziemlich blass und sah mitgenommen aus.
»Denken Sie noch viel an Halldór? Das war ein furchtbares Erlebnis.«
»Ja, nein«, stammelte Snævar und wich ihrem Blick aus. Er konnte die Hände auf seinem Schoß nicht ruhig halten und hatte den Schock definitiv noch nicht überwunden.
»Haben Sie psychologische Hilfe bekommen, Snævar?«
»Nee, das wurde mir angeboten, aber ich habe abgelehnt. Ich weiß nicht, was das bringen soll.« Er zog die Nase hoch und rutschte auf seinem Stuhl herum. »Damit muss ich selbst klarkommen.«
»Verstehe«, sagte Dóra. Es war offensichtlich, dass das nicht besonders gut funktionierte. »Sie sollten trotzdem mit einem Spezialisten reden. Dafür ist es nie zu spät. Sie werden sehen, dass es Ihnen danach viel bessergeht. Versuchen Sie es doch einfach mal.«
Snævar schnaubte leise, was sowohl Zustimmung als auch Ablehnung hätte sein können. Dóra beließ es dabei und fragte lieber nach etwas Konkreterem:
»Wie geht es ihrem Bein? Schon besser?«
»Der Gips soll sechs Wochen dranbleiben.«
Er klopfte auf die Kunststoffstütze, die in eine Nóatún-Plastiktüte gewickelt aus seinem Hosenbein ragte.
»Die Hälfte müsste jetzt rum sein, und ich freue mich schon darauf, wenn ich wieder auf zwei Beinen laufen kann. Und anziehen kann, was ich möchte, und nicht das, wo ich reinkomme«, fügte er lächelnd hinzu und sah direkt ganz anders aus.
»Den Gips sind Sie schneller los, als sie denken«, sagte Dóra fröhlich, als sie Snævar aufleben sah. »Dabei fällt mir ein … hier sind die Papiere vom Krankenhaus in Lissabon. Die brauchen Sie bestimmt, wenn Sie zum Arzt gehen. Entschuldigen Sie bitte, dass ich sie erst jetzt zurückgebe.«
Snævar streckte die Hand aus und nahm die Unterlagen entgegen.
»Kein Problem. Ich habe es sowieso noch nicht geschafft. Muss mich langsam beeilen.«
»Wenn Sie möchten, kann ich Sie hinfahren. Ich müsste Sie nämlich um ein ärztliches Attest bitten. Eine Bescheinigung, dass Sie nicht mit dem Schiff zurückfahren und nicht arbeiten konnten.«
»Ich hätte sehr wohl fahren können.«
Dóra versuchte, ihre Gereiztheit zu verbergen, die sich weniger auf Snævar als auf sie selbst und ihren ständig wiederkehrenden Argwohn gegen Ægir bezog.
»Ja, zweifellos, aber Sie haben es nicht gemacht, und ich brauche eine Bestätigung, dass es wegen des Beinbruchs war. Die portugiesischen Papiere reichen nicht. Ich könnte auch meinen Ex-Mann bitten, bei Ihnen vorbeizuschauen. Er schuldet mir noch einen Gefallen.«
Gylfi hatte den Job auf der Bohrinsel bekommen und sollte direkt nach den Abiturprüfungen anfangen. In drei Monaten musste Dóra von ihrem vertrauten Leben Abschied nehmen.
»Dann müssen Sie das Haus nicht verlassen«, fügte sie hinzu.
»Nein, nein, ich gehe zu meinem Hausarzt, kein Problem.« Snævar war anzusehen, dass er einen Besuch ihres Ex-Mannes unbedingt vermeiden wollte. Er räusperte sich. »Hat sich eigentlich geklärt, wie Halli gestorben ist?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Dóra. Sie wollte ihm nicht sagen, dass die Polizei ihr die Todesursache anvertraut hatte. Es war klar, dass Halli ertrunken war, aber es gab so viele Ungereimtheiten, dass sie lieber so wenig wie möglich
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