Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
man muss ja nicht direkt am Anfang hinfallen.«
Mit diesen Worten verschwand er im Steuerhaus.
Ægir stellte die Aktentasche an eine sichere Stelle auf den Stapel mit den Vorräten, froh, sie aus der Hand zu haben. Er rieb sich über die Arme. Es wurde kühler, und der dünne Pullover nützte nicht viel. Dann schaute er zu seiner Frau und seinen Töchtern, die sich auf eine der abgedeckten Bänke im Bug gesetzt hatten. Lára strich Bylgja vorsichtig durchs Haar. Die Kleine kuschelte sich in ihre Arme und schien die anderen Yachten zu betrachten, die in einer endlosen Reihe im Hafen lagen. Doch Ægir konnte ihr Gesicht nicht sehen, vielleicht waren ihre Augen hinter den verschmierten Brillengläsern auch geschlossen. Er ging zu ihnen und gab Lára einen Kuss auf die Stirn.
»Na, was sagt ihr, Mädels? Gefällt es euch?« Er ließ seinen Blick über die Boote schweifen und fragte sich, warum das viele Geld auf der Welt so ungerecht verteilt war. »Es wird nicht die ganze Fahrt über so friedlich sein. Wir fahren nach Norden und haben vielleicht hohen Seegang.«
»Es ist wunderschön.«
Lára schob Bylgjas Kopf an ihrer Brust zurecht. Als sie lächelte, bildeten sich kleine Fältchen um ihre Augen. Lára mochte sie nicht, aber Ægir fand sie charmant. Sie legte ihre Lippen an Bylgjas Kopf und flüsterte in ihr Haar:
»Wenn wir ganz weit draußen auf dem Meer sind, sind wir so tüchtige Seeleute, dass wir das Schaukeln toll finden.« Dann drückte sie einen schmatzenden Kuss auf das kleine Köpfchen.
Ægir nahm Arna in den Arm, und so saßen sie still da und beobachteten das Treiben im Hafen. Halli kam an Deck und schwang sich auf den Steg, löste die Vertäuung und sprang wieder zu ihnen aufs Schiff. Wieder erklang das hohle Geräusch und hallte durch den Schiffsrumpf. Dann verschwand er im Inneren der Yacht, und kurz darauf legten sie ab.
Langsam glitt das Schiff über den Fluss zum Meer. Die Stadt wirkte in der Abendsonne ganz friedlich, und die pastellfarbenen Häuser kamen noch besser zur Geltung.
»Bist du aufgeregt, kleine Brillenschlange?«, fragte Ægir und umfasste Bylgjas weiches Kinn. Er drehte ihren Kopf zu sich, und sie sah ihn trübselig an.
»Wer passt jetzt auf uns auf, Papa?«, fragte sie und zeigte auf die große Jesus-Statue, von der sie sich rasch entfernten.
»Na, Jesus natürlich. Er passt auf alle auf, egal, wo sie sind.«
»Auf dem Meer nicht. Er passt nur auf die Stadt auf.«
Ægir lächelte Bylgja an. »Nein, nein, er wacht über alle. Egal, wo sie sind.« Er löste den Blick von seiner Tochter und starrte auf das vor ihnen liegende Meer. Es wirkte unheimlich groß, rau und unbarmherzig. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, gläubig zu sein. Wer würde draußen auf dem Meer auf sie aufpassen?
»He, alles okay?« Lára hatte sich zu ihm gebeugt und ihn an der Schulter berührt. »Du siehst so traurig aus.«
Ægir schüttelte das ungute Gefühl ab und lächelte sie an.
»Was? Nee, alles bestens.«
Sie wirkte skeptisch, schwieg aber und wandte sich wieder der Aussicht zu. Ægir versuchte, auf andere Gedanken zu kommen – es wäre dumm, diesen Moment nicht zu genießen. Die Fahrt würde schön werden, und alles würde gutgehen. Der Kapitän hatte gesagt, die Strecke betrage ungefähr sechzehnhundert Seemeilen, und wenn alles nach Plan verliefe, seien sie in fünf bis sechs Tagen in Island. Die Wettervorhersage war gut, und es gab keinen Grund, zu glauben, dass das kein tolles Erlebnis werden würde. Eine knappe Woche ging schnell vorbei. Und was sollte schon passieren?
3. Kapitel
Der Winter weigerte sich, seinen Griff zu lockern, manchmal erschien der Frühling für einen kurzen Moment und verschwand dann ebenso schnell wieder. Die warmen Abschnitte weckten nur falsche Hoffnungen und erinnerten die Leute daran, was ihnen fehlte. Dóra stand bibbernd am Hafen und wartete auf den Vertreter des Auflösungsausschusses der Bank, bei der Ægir Margeirsson gearbeitet hatte. Ihr dünner Sommermantel schützte sie nicht vor dem Nordwind, der es immer wieder mit bewundernswerter Beharrlichkeit schaffte, ein paar Tropfen Meerwasser aufzupeitschen, so dass ein unangenehm salziger Geschmack auf den Lippen haften blieb.
»Warum war ich immer noch nicht beim Friseur?«
Dóras Haare waren ungewöhnlich lang und wehten ihr ständig ins Gesicht. Sie blieben an ihrem Lippenstift kleben, und Dóra bereute es bereits, ihn aufgetragen zu haben, bevor sie aus dem Auto gestiegen
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