Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
die bereits drinnen spielten. Als Dóra die Tür öffnete, hätte sie Orri am liebsten nachgeahmt und sich die Ohren zugehalten. Sie beugte sich zu ihm hinunter, zog sanft eine Hand von seinem Ohr und flüsterte:
»Sei froh, dass du keine acht Ohren hast, dann bräuchtest du auch acht Hände!«
Als sie sich hinters Steuer setzte und die Autotür zuschlug, setzten die altvertrauten Gewissensbisse ein, wie jedes Mal zu dieser Zeit und an diesem Ort. Wie erging es dem Kind eigentlich in der Obhut Fremder? Nicht, dass sie den Kindergärtnerinnen unterstellen würde, Orri nicht gut zu behandeln. Keineswegs. Vielmehr beunruhigte sie die große Menge an Kindern. Zu Hause kümmerten sich fünf Personen um Orri, und im Kindergarten war das Verhältnis fast umgekehrt. Aber da ließ sich nicht viel dran ändern. Dóra sollte lieber dankbar sein, so viel Zeit mit ihrem Enkel verbringen zu dürfen. Jedenfalls noch. Gylfi war immer noch von der unsäglichen Idee mit der Bohrinsel besessen und hatte schon andere damit angesteckt. Am Morgen hatte Dóra gehört, wie Sóley ihren Bruder gefragt hatte, ob Ferienjobs in Norwegen besser bezahlt seien als in Island. Und Matthias war so begeistert von der Idee, dass sie sich nicht gewundert hätte, wenn er sich auch auf den Job bewerben würde.
»Ist was über die Leiche in den Nachrichten?«
Dóra hängte ihre Jacke auf und versuchte ihre Verwunderung darüber, dass die Sekretärin pünktlich war, zu überspielen – sie saß sogar schon am Computer hinter dem Empfangstresen.
»Keine Ahnung«, antwortete Bella, ohne ihren Blick vom Bildschirm abzuwenden. Ihr rundes, blasses Gesicht war bläulich erleuchtet, wodurch sie noch leichenhafter aussah als sonst. »Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, ich hab dir doch gesagt, dass es Karítas ist.«
»Wenn du meinst.«
Dóra machte den Garderobenschrank zu und nahm ihre Aktentasche. Sie hatte Bella nicht erzählt, dass sie von der Polizei erfahren hatte, dass die Tote möglicherweise an Bord der Yacht gewesen war. Sie war sich nicht wirklich sicher, ob man Bella etwas anvertrauen konnte, wobei sie ihres Wissens noch nie etwas ausgeplappert hatte. Aber die Informationen waren noch nicht bestätigt, und es gab keinen Grund, Bellas Überzeugung von Karítas’ Tod mit Halbwahrheiten weiter anzufachen.
»Warum bist du schon so früh hier?«, fragte sie. Vielleicht hatte der Fall Bella so gepackt, dass sie meinte, schon vor Tagesanbruch auf der Arbeit sein zu müssen.
»Zu Hause haben sie mir den Internetzugang gesperrt.«
Bella hob in Zeitlupe ihren Kopf vom Bildschirm und warf Dóra einen wütenden Blick zu. Der sollte wahrscheinlich sagen, dass sie nicht anständig bezahlt würde. Aber die Bedingung für eine anständige Bezahlung war natürlich, dass man auch anständig arbeitete.
»Ich hab ein Angebot auf eBay laufen, das ich verfolgen muss. Die Zeit läuft bald ab, und ich will nicht, dass mich in letzter Sekunde jemand überbietet.«
Dóra drehte sich auf dem Weg in ihr Büro um und fragte:
»Du hast kein Geld, deinen Internetanschluss zu bezahlen, und shoppst im Internet? Ich würde das lieber lassen und damit anfangen, kleinere Schulden abzuzahlen.«
Bella verdrehte die Augen.
»Das sind keine kleineren Schulden.« Sie tippte auf der Maus herum und blies die Wangen auf. »Außerdem kaufe ich was, um ein Geschäft zu machen. Wenn ich diese Box für einen guten Preis kriege, kann ich sie später teurer wieder verkaufen. Es sind also eigentlich Einnahmen, nicht Ausgaben.«
»Box?« Dóra hob die Augenbrauen.
»Batman Lego. Arkham Asylum.«
Dóra traute sich nicht zu, den Namen zu wiederholen und fragte:
»Wie soll man denn mit einer Lego-Box was verdienen?« Vielleicht war Bella endgültig durchgeknallt, wobei es nach der Erfahrung der letzten Jahre wohl auch nicht dümmer war, sein Geld in Lego zu investieren als in isländische Aktien. »Ist das ein Sammlerstück?«
Bella nickte.
»Ja, und dieser Typ hat offensichtlich keine Ahnung, was er da in der Hand hat.« Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf die eBay-Seite. »Die Verpackung ist unversehrt, alle Anleitungen sind dabei, und es fehlt keine einzige Figur und kein einiger Lego-Stein.«
Sie schaute zu Dóra.
»In dieser Box waren sieben Figuren.«
Dóra versuchte zu lächeln. Sie hatte keinen blassen Schimmer, ob sieben Figuren viel oder wenig war.
»Viel Glück!«, wünschte sie nur.
Dieser kurze Einblick in Bellas wundersame Welt reichte ihr vollkommen,
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