Todesschlaf - Thriller
ziemlich viele von Ihren Patienten in die Notaufnahme bekommen«, sagte sie zu Gladys.
Gladys drückte die Krankenakte an ihre Brust, als wäre es eine Bibel. »Ich weiß.«
»Das muss sehr schwer sein für Sie. Man entwickelt eine solche Bindung.«
Ein Nicken, ein schmerzliches Zucken der Gesichtsmuskeln, das fast zu echt wirkte. »Mary Jane sagt immer, dass ich es eines Tages verstehen würde. Aber das glaube ich nicht.«
»Verstehen?«
»Weshalb sie so schwer heimgesucht werden.Weshalb sie so leiden müssen. Weshalb sie uns verlassen …« Jetzt riss Gladys tatsächlich den Mund auf und streifte seltsam berührt Timmies Arm. »Oh, das tut mir leid. Jetzt sage ich so was, und dabei ist Ihr Vater doch hier. Sie wissen es natürlich.«
»Es bereitet mir schon ein wenig Sorge, Gladys«, sagte sie
und kam ein Stückchen näher. »Ich meine, ich weiß, welche Qualität die Pflege hier oben hat, aber in der Notaufnahme bekommt man hin und wieder schon die eine oder andere Frage zu hören … na ja, in letzter Zeit sind ja ziemlich viele Patienten … ähm, abberufen worden.«
Gladys tätschelte sie erneut, und ihre Hand zitterte dabei nur ein winziges bisschen. »Da müssen Sie sich bestimmt keine Gedanken machen. Sie wissen doch, wie das passiert. Da gibt ein lieber Mensch auf und die anderen wollen ihm nach. Sie wollen einfach nicht mehr leiden, glaube ich. Sie machen sich doch aber keine Sorgen um Ihren Vater, oder? Na, er ist doch noch rüstig wie ein Teenager.«
Was bedeutete, dass Gladys keine Empörung über die Vorgänge in Restcrest mit ihr teilen wollte. Andererseits sollte man sie vielleicht im Auge behalten.
»Danke«, sagte Timmie und schob sich unauffällig in Richtung Tür. »Ich bin wirklich froh über dieses Gespräch. Ich habe Mary Jane gesagt, sie soll hier oben mehr Personal einstellen, damit Sie sich nicht immer mit Amateuren wie uns herumschlagen müssen.«
Gladys folgte Timmie bis zur Tür. »Das wäre schön«, pflichtete sie Timmie bei. »Aber eigentlich kann ich über die Mädchen aus der Notaufnahme nichts Schlechtes sagen. Schon gar nicht über Ellen und diese andere. Unsere zerbrechlichen Menschen haben sie regelrecht ins Herz geschlossen.«
Timmie nickte. »Das klingt ganz nach Ellen.«
Gladys deutete mit Berthas Krankenakte einen Salut an und ließ sie dann in das Fach an der Tür gleiten. »Wenn Sie sie sehen, dann richten Sie ihr meinen Dank aus.«
»Das mache ich. Und Sie sorgen gut für Bertha, okay?«
»Selbstverständlich.«
Bei ihrer Ankunft auf Station drei wurde Timmie von Popcornduft empfangen. Um diese Zeit wurde immer etwas
zum Naschen angeboten, und die Alten zogen in Richtung Küche wie Zombies auf der Jagd nach frischem Blut. Ganz am anderen Ende des Raumes konnte Timmie sehen, wie die Nase ihres Vaters anfing zu zucken, und wie er sich zielsicher nach dem Duft umdrehte. Sie musste unweigerlich lächeln. Er liebte Popcorn. In all seinen Lieblingskneipen hatte Popcorn auf der Speisekarte gestanden. Sie musste ihm unbedingt eine Schüssel davon besorgen. Und für sich selbst am besten auch eine. Nichts brachte die Speicheldrüsen einer Krankenhausangestellten so schnell auf Trab wie der Duft nach frischem Popcorn.
Gerade, als Timmie sich in die Schlange eingereiht hatte, nahm sie eine gewisse Unruhe in ihrem Rücken wahr. Ein Schrei. Ein Klappern. Eine selbst durch zwei Doppeltüren hindurch klar verständliche Stimme, die schrie: »Oh nein, Hilfe! Ein Notfall! Holt Hilfe!«
Ach, verdammt. Das war direkt hinter ihr, und das hieß: Station fünf.
Das hieß: Bertha.
Timmie machte auf dem Absatz kehrt und raste zurück zur Station fünf, wo sie Gladys entdeckte, die verzweifelt versuchte, drei mal die Neun in die Telefontastatur einzugeben. Ohne Erfolg. Pflegeschwestern waren hervorragend, wenn es um Geduld und Ermutigung und Beruhigung ging. Mit Krisen kamen sie nicht ganz so gut zurecht.
Timmie riss Gladys das Telefon aus der Hand und wählte. »Code blau, Restcrest, Station fünf«, sagte sie. »Zimmer vier.«
»Nein!«, kreischte Gladys und fiel ihr in den Arm. »Nicht Bertha! Alice!«
Timmie starrte sie an. »Alice?«
»Code blau, Restcrest«, dröhnte die Stimme aus den Lautsprechern. »Station fünf, Zimmer vier.«
Gladys hetzte zu ihrer Patientin und Timmie rannte los,
um einen Rollschrank mit Instrumenten zu besorgen. »Alice?«, wiederholte sie ungläubig. »Sind Sie sicher?«
Alice. Kein Zweifel möglich. Die dürre, mürrische Alte, an der Dr.
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