Todesschlaf - Thriller
versetzt worden.«
»Er war Lehrer?«
»Eine Weile. Es gibt Vieles, was er eine Weile lang gemacht hat. Aber er hat uns allen sehr viel Freude beschert, einfach, weil es ihm Spaß gemacht hat. In Kneipen, auf dem Marktplatz, bei Kirchenveranstaltungen. Es liegt nicht genug Musik in der Luft, hat er immer gesagt, und wenn niemand das ändern wolle, dann würde er eben dafür sorgen. Und ge-nau das hat er gemacht.«
Allem Anschein nach machte er das auch heute noch. Murphy hörte seine charakteristische Stimme noch bevor sie die Tür geöffnet hatten.
»… ›Wohl mag nun dies ein Blitz mir heißen. - Oh mein Herz! Mein Weib!‹ …«
Raymond grinste wie ein kleiner Junge. »Romeo«, jubilierte er, während er die Tür aufstieß, als rechnete er damit, dahinter auf Leonardo di Caprio zu treffen.
Doch das Einzige, was es hinter dieser Tür zu sehen gab, waren noch mehr alte Menschen. Noch mehr Personal. Noch mehr Schränke mit durchsichtigen Türen und hell erleuchtete Anschlagtafeln. Und Joe Leary, der breitbeinig mitten auf dem beigefarbenen Teppich stand, den Körper gebeugt, die mächtige Hand an die Wange seiner Tochter gelegt, die an einem mit Kaffeetassen und Orangenschalen übersäten Tisch saß. Selbst von seinem Standort aus konnte Murphy das Glitzern in ihren Augen erkennen.
»›Der Tod, der deines Odems Balsam sog …‹«, flüsterte Joe Leary, sodass es jeder Mensch im Raum hören konnte, »›… hat über deine Schönheit nichts vermocht. Noch bist du nicht besiegt …‹«
»Fünfter Aufzug, dritte Szene«, raunte Raymond Murphy ehrfürchtig zu. »Gleich geht Romeo für sie in den Tod.«
Niemand rührte sich. Niemand atmete. Murphy sah zu, beobachtete, wie Raymond, genau wie alle anderen auch, von gespannter Aufmerksamkeit ergriffen wurde. Er wandte sich ebenfalls der Vorführung zu.
Joe Leary hatte etwas Hypnotisierendes. Die mächtige Stimme gedämpft, der Blick voller Trauer, die Bewegungen reduziert.Viel hätte nicht gefehlt und Murphy hätte anstelle dieses zerzausten, weißhaarigen, alten Titanen tatsächlich einen niedergeschlagenen, unreifen Siebzehnjährigen vor sich gesehen.
Und so ging es offensichtlich auch allen anderen. Sie verharrten
in Erstarrung, während sich die Worte wie ein sanfter, trauriger Sturm in dem künstlich erhellten Raum ausbreiteten.
»›Komm, bittrer Führer, widriger Gefährt, du verzweifelter Pilot! Nun treib auf einmal … treib auf einmal …‹«
Niemand außer Murphy bemerkte die Verzögerung. Wenn man das Stück nicht auswendig kannte, dann wirkte sie ganz natürlich. Doch der Blick des alten Mannes wurde unruhig, seine Hand zitterte.
»›Treib auf einmal …‹«
Am liebsten wäre Murphy ihm rettend zur Seite gesprungen. Aber das war gar nicht nötig. Joe Learys Zittern wurde stärker, so lange, bis Murphy sich sicher war, dass es auch die anderen bemerken mussten. Sein Blick richtete sich starr auf das Gesicht seiner Tochter. Sie rührte sich nicht. Kaum wahrnehmbar formulierte ihr Mund die Zeilen, die der alte Mann kurzfristig vergessen hatte, flüsterte die Worte so leise, dass sie fast nicht zu hören waren. Sorgte als perfekte Souffleuse dafür, dass alle Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet blieb.
Und dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, war Romeo wieder da.
»›Nun treib auf einmal dein sturmerkranktes Schiff in Felsenbrandung!‹«, rief er aus. »›Dies auf dein Wohl, wo du auch stranden magst! Dies meiner Liebsten! Oh, wackrer Apotheker, dein Trank wirkt schnell.‹« Pantomimisch hob er ein Glas an die Lippen, trank, und aller Augen hingen an ihm. »›Und so im Kusse sterbe ich.‹«
Der ganze Raum brach in tosenden Applaus aus.
»Macht er so etwas dauernd?«, fragte Murphy und klatschte ebenfalls.
»Dauernd«, versicherte ihm Raymond. »Er ist das Beste, was dieser Einrichtung seit der Erfindung der Musiktherapie widerfahren ist.«
Nun bildete sich eine riesige Menschentraube um den alten Mann, und alle hatten sie das gleiche gottverdammte Lächeln auf den Lippen. Weinende alte Menschen und lachendes Personal und Joe stand da, während die Energie aus seinen Zügen wich wie das Licht aus einer Taschenlampe mit leeren Batterien und das Zittern wiederkam.
Er blickte sich um, als versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern, und dann bat ihn eine der Krankenschwestern, ihr mit dem Rest der Geschichte auf die Sprünge zu helfen. Joe wurde ruhiger, wandte sich ihr zu und lächelte.
»Die Geschichte ist so alt wie die
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