Todesschuss - Ein Nathan-McBride-Thriller (German Edition)
er ein Fernglas, in der verwundeten ein Funkgerät. Das Weiß, das Nathan vorhin gesehen hatte, war eine Mullbinde. Ernie war schlau genug gewesen, das T-Shirt auszuziehen, hatte aber nicht an den Verband gedacht.
Nathan justierte die Höhenverstellung an seinem Zielfernrohr um zehn Klicks für einen leicht nach oben gerichteten Schuss auf vierhundert Meter Entfernung. Aus Nordwesten wehte ein schwacher Wind, dessen Geschwindigkeit er auf etwa drei bis fünf Stundenkilometer schätzte. Da er direkt gegen den Wind schoss, war eine Seitenkorrektur nicht nötig.
»Du begehst einen Riesenfehler«, flüsterte er in Ernies Richtung. »Deine Bewegungen sind viel zu berechenbar.« Alle fünfzehn Sekunden tauchte Ernie aus seinem Versteck auf, blickte für fünf Sekunden zum Hubschrauber hinüber und ging dann wieder in Deckung.
Nathan zielte mit dem Fadenkreuz auf die Stelle, wo Ernies Kopf in zehn Sekunden erscheinen würde, und wartete.
Doch diesmal geschah nichts.
Ernie kam nicht zum Vorschein.
Das Fünfzehn-Sekunden-Intervall war längst vorbei, aber Ernie ließ sich immer noch nicht blicken. Was zum Teufel machte er nur? Er konnte seine Felsspalte unmöglich verlassen, ohne dass Nathan ihn sah. Dreißig Sekunden verstrichen.
Hat Leonard mich womöglich entdeckt und seinen Bruder über Funk gewarnt? Scheiße. Nein, das kann nicht sein. Leonard kann mich unmöglich gesehen haben. Nie und nimmer.
Vierzig Sekunden.
Fünfzig.
Eine ganze Minute.
Nur Geduld, ermahnte er sich. Tief ein- und ausatmen. Ein … aus … fokussiert bleiben. Ernie ist immer noch da, bald taucht er wieder auf. Nur Geduld …
Nach neunzig Sekunden wusste Nathan, was los war. Ernie musste Nathans Anwesenheit gespürt haben, denn als er wieder zum Vorschein kam, war der strahlend weiße Verband an seiner Hand weg. Aber es war zu spät.
»Mitten ins Schwarze«, flüsterte Nathan.
Der Rückstoß der Remington 700 traf seine rechte Schulter und ein stechender Schmerz durchfuhr seine genähte Wunde. Für einen Augenblick sah er nur verschwommen. Als der Schleier vor seinen Augen wieder verschwand, konnte er Ernie nicht sehen, dafür aber das, was an der Kalksteinwand hinter seinem Versteck von ihm übrig geblieben war – ein eindeutiger Kopfschuss.
»Ich habe mein Wort gehalten«, flüsterte er. »Von einem Marine zum anderen.«
Die Wunde am Arm hörte nicht auf zu bluten. Wie viel Zeit blieb ihm noch, bevor der Blutverlust gefährliche Ausmaße annahm? Im Moment konnte er es sich nicht leisten, seine Gedanken daran zu verschwenden, denn der Kampf hatte erst begonnen. Dass er Ernie ausgeschaltet hatte, half natürlich, sowohl psychologischals auch logistisch, aber es half ihm nicht, an einem Heckenschützen vorbeizukommen, der ihn von einem sicheren Versteck aus ins Visier nahm. Leonard spielte Katz und Maus mit ihm und verließ sich dabei darauf, dass Nathan nicht anders konnte, als Grangeland zu retten. Außerdem wusste Leonard, dass sein Gegner den Hubschrauber brauchte, um mit der Außenwelt zu kommunizieren und diesen Ort wieder zu verlassen. Er musste also fest damit rechnen, dass Nathan irgendwann dort auftauchen würde.
Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Leonard, aber da hast du dich gewaltig geschnitten.
Eine Alternative nahm in seinen Gedanken Gestalt an. Um an Grangeland heranzukommen, musste er Leonard irgendwie ablenken, und das ging am besten, wenn er zu Harv zurückkehrte. Zu zweit hätten sie eine größere Chance.
Nathan löste sich im Zeitlupentempo von dem Baumstamm, duckte sich und hing sich das Gewehr um die Schulter, um mit freien Händen zurück zu Harv zu kriechen.
Halten Sie durch, Grangeland, wir lassen Sie nicht im Stich.
Wie viel Zeit war verstrichen, seitdem Leonard auf sie geschossen hatte? Zwanzig Minuten? Eine halbe Stunde? Er war sich nicht sicher. Er rief sich ihren Anblick ins Gedächtnis, konnte sich aber nicht erinnern, Blut gesehen zu haben. Sie hatte ihre dunkelblaue FBI-Windjacke angehabt, um ihre Pistole und schusssichere Weste zu verbergen. Wahrscheinlich verdankte sie der Weste, dass sie noch lebte. Aber wie viel Zeit blieb ihr noch?
Harvey drehte seinen Kopf in die Richtung, aus der der Schuss ertönte. »Nathan«, flüsterte er. Hatte Leonard soeben Nathan erschossen oder hatte Nathan einen der Brüder getötet? Er überlegte, sich flussaufwärts in Richtung des Schusses zu bewegen. Womöglich war Nathan getroffen und verwundet und verblutete langsam und qualvoll. Wenn er
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