Todessommer: Thriller (Rebekka Holm-Reihe) (German Edition)
letzten Informationen zufolge ins Reichskrankenhaus gebracht worden war.
Reza übernahm den Keller, und Rebekka begann in der ersten Etage, wo zwei kleinere Schlafzimmer und eine Kammer lagen, die als Büro diente. An der Pinnwand über dem Schreibtisch hingen Fotos von Mutter und Tochter. Es war offensichtlich, dass sie viel gereist waren, Rebekka erkannte auf den Bildern Paris, New York und San Francisco. Sie öffnete die Schränke, sah kurz in die verschiedenen Schubladen, doch ihr sprang nichts ins Auge. Eine halbe Stunde später verabschiedeten sie sich von dem Ehepaar und fuhren schweigend zum Reichskrankenhaus.
Ein jüngerer Arzt nahm sie in Empfang, als sie in dem grauen Betonbau ankamen. Er informierte sie kurz über Ane Lindemann, deren Zustand ernst, aber stabil war. Sie war durch ihre Krankheit jedoch stark geschwächt und hatte seiner Einschätzung nach nur noch kurze Zeit zu leben, vermutlich nur noch wenige Tage. Der Grund für ihre Bewusstlosigkeit sei eine Überdosis an Medikamenten, erklärte er. Bei dieser großen Menge an Medikamenten komme es nicht selten vor, dass die Patienten zu viele nahmen. Der Pager des Arztes piepste mehrmals in den Minuten, die er mit ihnen draußen auf dem grauen Linoleumgang stand, wo weiß gekleidete Gestalten lautlos wie Gespenster zu den Türen hinein- und wieder hinausglitten.
»Wir müssen mit Ane Lindemann reden, jetzt. Sofort. Ihre zwölfjährige Tochter ist verschwunden. Sie könnte in Gefahr sein.« Rebekka sah den Arzt eindringlich an.
»Sie schläft. Sie ist sehr schwach.«
»Es muss sein.«
Der Arzt machte eine widerstrebende Armbewegung, dann zeigte er ihnen das Zimmer von Ane Lindemann. Sie traten ein. Netes Mutter lag allein im Raum, ein kleines, blasses Gesicht auf einem Kissen, kahlköpfig wie ein Ei, selbst Augenbrauen und Wimpern waren fort. Auf dem Nachttisch lagen eine dunkelbraune Perücke und ein Seidentuch in Rottönen. Rebekka spürte einen Kloß im Hals. Draußen schien die Herbstsonne, und sie warf einen Blick aus dem Fenster. Das Leben draußen ging weiter. Die Leute spazierten mit Kinderwagen und Hunden vorbei, lachend, redend. Aus dem Imbisswagen an der Ecke wurden Hotdogs über den Tresen gereicht, die Autos hupten, ein Bus spuckte eine große Gruppe Fahrgäste aus und fuhr mit einem schwachen Sausen wieder an.
»Ane.« Rebekka legte vorsichtig ihre Hand auf die der Frau, die leicht zusammenzuckte. Sie schlug langsam die Augen auf und sah sie erschrocken an.
»Ich heiße Rebekka Holm, und das ist mein Kollege Reza Aghajan. Wir sind von der Polizei. Wenn wir es richtig verstanden haben, ist Ihre Tochter Nete verschwunden, oder?«
Die Frau sah sie zunächst verwirrt an, dann nickte sie leicht.
»Wir müssen mehr wissen, wenn wir sie finden sollen. Das ist wichtig. Wann genau ist sie verschwunden?«
»Heute Morgen.« Die Stimme war kaum hörbar, Rebekka musste sich vorbeugen, um sie zu verstehen.
»Wann genau heute Morgen?«
Ane Lindemann befeuchtete ihre Lippen. Ihre Augen blickten resigniert, leer. »Ich weiß es nicht. Ich bin in der Hütte aufgewacht und habe festgestellt, dass sie weg war. Es kann auch gestern Abend oder heute Nacht passiert sein.«
»In der Hütte? Wo waren Sie genau?«
»Mein Vetter hat eine Hütte am Esrum-See. Wir können sie nutzen, wenn wir wollen. Ich kann Ihnen die Adresse geben …«
Ane Lindemann schloss erneut die Augen. Ihr Brustkorb bewegte sich mühsam auf und ab, das Reden fiel ihr sichtlich schwer.
Einige Minuten später standen sie mit der Adresse der Hütte unten auf der Straße. Ane Lindemann hatte ihnen keine weiteren Informationen geben können.
»Du siehst besorgt aus, Rebekka«, sagte Reza.
Sie nickte, während sie die Autotür aufschloss. Am liebsten hätte sie ihm von Ryans Theorie erzählt, doch dann entschied sie sich zu warten. Stattdessen sagte sie:
»Wir haben zwei verschwundene Mädchen im Laufe von vierundzwanzig Stunden. Das ist mehr als besorgniserregend nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass wir bereits einen unaufgeklärten Kindermord haben.«
Reza nickte ernst, und Rebekka fügte hinzu: »Ich muss gestehen, dass ich ziemlich verwirrt bin, was das letzte Mädchen, Nete Lindemann, angeht. Ich wundere mich …«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Nete sieht den beiden anderen Mädchen nicht ähnlich und …«, Rebekka zögerte, »…und die Wahrscheinlichkeit, dass wir es mit drei voneinander unabhängigen Fällen zu tun haben, ist doch gleich null.«
»Sie
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