Todesspur
gewünscht als einen Enkel aus Rumänien, über dessen Gene man nichts weiß. So etwas ist doch wie ein Lotteriespiel.«
»Sind das leibliche Kinder nicht auch?«, gibt Oda zu bedenken.
»Da haben Sie auch wieder recht«, lautet die prompte Antwort.
»Weiß man etwas über Rubens Herkunft?«
»Nein. Er war in einem Kinderheim untergebracht gewesen, angeblich Vollwaise. Es müssen dort scheußliche Zustände geherrscht haben Anfang der Neunziger. Ich bezweifle allerdings, dass das heute besser ist.«
Ein Akt des Mitleids? Oder der verzweifelte Ausweg eines kinderlosen Paares?
Die alte Dame scheint das Gedanken gelesen zu haben, sie schüttelt den Kopf und sagt: »Ich bin überzeugt, dass die Idee von meinem Schwiegersohn stammte. Constanze hat nämlich unter ihrer Kinderlosigkeit gar nicht so sehr gelitten. Sie mochte ihren Beruf gern, sie war Lehrerin. Aber er … « Sie verzieht die Mundwinkel und winkt ab. »Sie hätte nicht nachgeben dürfen, schließlich ist sie die Mutter, es bleibt ja immer alles an den Müttern hängen.«
»Haben die beiden versucht, hier ein Kind zu adoptieren?«
Die Großmutter nickt. »Ja. Erst hat man sie ewig auf Wartelisten gesetzt, und dann waren sie Ende dreißig und damit angeblich zu alt. Babys sind ohnehin kaum zu bekommen.« Sie trinkt von ihrem Hagebuttentee und meint dann: »Es war schwierig mit Ruben. Ich glaube, Constanze hatte erwartet, dass sich die Mutterliebe von selbst einstellen würde, sobald das Kind im Haus ist. Aber so war es nicht. Sie hat sich Mühe gegeben, Ralf natürlich auch, aber es ist … es ist halt etwas anderes mit einem fremden Kind. Einmal hat sie mir gestanden, dass sie anfangs seinen Geruch nicht mochte, dass sie sich ekelte, wenn er in die Hosen oder ins Bett machte.«
Bei diesen Worten hat Oda sofort die triefenden Rotznasen von Veronikas einstigen Spielkameraden vor Augen. So unschön der Anblick auch war, sie hat es dennoch nicht fertiggebracht, ihnen die Nasen zu putzen. Und genau wie Frau Döhring fand auch Oda immer, dass die anderen Kinder nicht gut rochen. Was den Nachwuchs angeht, funktionierten Menschen offenbar wie Tiere.
»Constanze wollte es zunächst unbedingt geheim halten, dass Ruben adoptiert worden war«, erzählt Frau Beuer. »Erst im Kindergarten und dann sogar in der Schule. Das habe ich nicht gutgeheißen. Wer A sagt, muss auch B sagen, finde ich. Aber es war ihre Entscheidung, wir hatten uns da nicht einzumischen. Als Ruben vier war, wurde Olaf geboren. Meine Tochter und mein Schwiegersohn waren überglücklich und plötzlich viel entspannter. Automatisch konzentrierten sie sich nicht mehr ausschließlich auf Ruben. Der reagierte zunächst eifersüchtig und aggressiv, aber mit der Zeit wurde er ruhiger. Vielleicht lag es auch an der Behandlung … «
»Welche Behandlung?«
»Psychotherapie und Medikamente. Angeblich soll er diese Sache gehabt haben – wie heißt es noch gleich, was sie heute alle haben?«
» ADHS ? Aufmerksamkeitsdefizit?«
»Ja, genau. Mein Mann hat immer gesagt, das wäre Unsinn, es gäbe halt auch lebhafte Jungs, und dass er in den Fußballverein gehen sollte, um sich auszutoben. Aber heutzutage geben sie den Kindern lieber Pillen und schicken sie zum Psychiater«, seufzt die Großmutter.
»Er hat Medikamente bekommen?«
»Ja. Ich weiß aber nicht, ab wann und wie lange. Als Schüler jedoch ganz bestimmt.«
»Ritalin?«
»Ja, ich glaube, so hieß das.«
»Und Ihr Enkel Olaf? Wie war der so?«
»Er wurde nach Strich und Faden verwöhnt!«
»Mehr als Ruben?«
»Ich fürchte, ja. Man versucht zwar, das zu vermeiden, nimmt sich vor, alle seine Kinder gleich zu behandeln, aber das gelingt nicht. Selbst bei leiblichen Geschwistern haben Eltern immer ein Lieblingskind, auch wenn sie es nicht zugeben. Ich zum Beispiel habe Constanze immer etwas lieber gemocht als ihre jüngere Schwester. Die war so wild und immer gegen mich, das legte sich erst, als sie selbst Kinder hatte. Jetzt wohnt sie in Bochum, wir verstehen uns inzwischen gut, aber ich glaube, mit Dörte könnte ich nicht unter einem Dach leben.«
»Ruben und Olaf … «, greift Oda mit sanfter Stimme ein, » … wie kamen die miteinander aus?«
»Ja, wie schon? Ruben war ja nicht blöd, der hat schon gemerkt, dass er nur ein Kind zweiter Wahl war.«
»Er wusste also schon immer, dass er adoptiert wurde?«
»Ja, er wusste es von Anfang an. Aber weil Constanze vor der Außenwelt so ein Geheimnis daraus machte, hat Ruben immer
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