Todesstatte
fürchten uns davor, unseren erzürnten Göttern gegenüberzutreten.
Aus diesem Grund haben wir alle unsere Mythen und Legenden ins Leben gerufen, alle unsere Rituale und Trugbilder. Das bedeutet, dass es sich bei dem, womit wir konfrontiert werden, nur um eine von uns selbst geschaffene Fiktion handelt und nicht um die unbegreifliche Wirklichkeit. Wir gleichen einer Schar Hühner, die bis zu jenem Tag, an dem die Axt auf ihren Hals fällt, auf dem Hof umherlaufen. Der einzige Unterschied zwischen uns und den Hühnern besteht darin, dass wir von Anfang an von der Axt wissen. Wer darüber zu viel nachdenkt, wird die Hühner womöglich beneiden.
Was nach dem Tod geschieht, ist unausgesprochen und manchmal unaussprechlich. Doch wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Wir können den Mund und die Ohren verschlieÃen, doch den Blick können wir nicht abwenden. Erinnert ihr euch an die Visionen, die einem vor dem Einschlafen durch den Kopf gehen? Das Unterbewusstsein versucht, einem das Wissen zu vermitteln, das man ablehnt.
Auszug aus dem buddhistischen Sutra der Achtsamkeit â neun Friedhofsbetrachtungen:
Und ferner sieht ein Bhikkhu, wie ein Leichnam auf den Friedhof geworfen wird, der nur noch aus unverbundenen Knochen besteht, die sich in alle Richtungen verteilen â hier ein Handknochen, dort ein FuÃknochen, ein Oberschenkelknochen, das Becken, das Rückgrat, der Schädel. Und so wendet er das Gesehene auf seinen eigenen Körper an: »Wahrlich ist auch mein Körper von derselben Beschaffenheit. SolchermaÃen wird er werden, und er wird dem nicht entgehen.«
13
A m Freitagmorgen lag ein brauner Briefumschlag auf Ben Coopers Schreibtisch. Zuerst wollte er ihn nicht anfassen. Er erinnerte ihn zu sehr an die Umschläge, die er im Krankenhaus zu sehen bekam. Hinter dem Schwesternzimmer lagen immer ganze Stapel davon mit Krankheitsgeschichten und Testergebnissen herum. Diese Umschläge enthielten Diagnosen oder Prognosen, einen Plan für die Entlassung eines Patienten oder die Beseitigung nach seinem Tod â die diskreten Vorkehrungen für sein Ãberleben oder sein Ableben, allesamt in braunem Papier verstaut.
Cooper holte sich einen Kaffee aus dem Automaten im Flur und fühlte sich schlieÃlich imstande, den verschlossenen Umschlag zu öffnen. Der Inhalt rutschte auf seinen Schreibtisch: Zahnbehandlungsdaten, und sie verhieÃen gute Neuigkeiten. Oder er glaubte zumindest, dass er sie als gute Neuigkeiten betrachten sollte. Er hatte die Identität seiner menschlichen Ãberreste bestätigt bekommen.
Cooper bemühte sich, guter Dinge zu sein, als er sich noch einmal die Fotos von Audrey Steele ansah. Doch das Schicksal hatte es wahrlich nicht gut mit Audrey gemeint, dass es ihr ein solches Ende beschert hatte.
In letzter Zeit war häufig die Rede davon, dass die Toten aus dem Jenseits sprachen. Damit war in der Regel die beträchtliche Menge an forensischen Beweisen gemeint, die an einer Leiche gefunden werden konnten. In gewisser Weise war schon etwasWahres daran, dass Mordopfer den Ermittlern dabei helfen konnten, ihre Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Audrey hüllte sich jedoch in Schweigen. Soweit Cooper es beurteilen konnte, hatte die Untersuchung ihrer sterblichen Ãberreste nichts Brauchbares zutage gefördert. Wie auch, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben war? Audreys Mutter war im Besitz der Sterbeurkunde. Eine Gehirnblutung, die vor der Einäscherung von einem zweiten Arzt bestätigt worden war.
Doch das kam Cooper irgendwie verkehrt vor. Von dem Moment an, als er Suzie Lees Rekonstruktion im Labor in Sheffield gesehen hatte, glaubte er, hören zu können, wie Audrey Steele aus den Wäldern des Ravensdale-Tals zu ihm sprach. Die Tatsache, dass sie ihm nichts erzählt hatte, was von entscheidender Bedeutung für das Ermittlungsverfahren war, schien seine Schuld zu sein, nicht ihre. Von jetzt an würde er ihr aufmerksamer zuhören.
Ein paar Minuten später rieb Detective Inspector Hitchens nachdenklich seine Finger aneinander, während er Coopers Berichterstattung über den Stand der Ermittlungen lauschte.
»Diese Frau hätte eigentlich vor achtzehn Monaten eingeäschert werden sollen?«, sagte er. »Ist es das, was Sie sagen?«
»Ja, Sir. Ihren Angehörigen zufolge wurde sie auch eingeäschert.«
»Und trotzdem tauchen ihre Ãberreste zehn Meilen vom
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