Todesstoß / Thriller
kauften gern solche alten Kästen auf, renovierten sie und verscherbelten sie wieder für ein Vielfaches des ursprünglichen Preises. Myron hatte keinen Cent davon verdient. Er hatte seine Mutter nie besucht. Nie zum Geburtstag angerufen. Sie dafür aber manchmal zum Weinen gebracht.
Eve hatte die alte Mrs. Daulton von ganzem Herzen geliebt, und sie wollte verdammt sein, wenn sie ihrem Widerling von Sohn erlaubte, sich an seiner Mutter zu bereichern. Eve hatte bereits mehrere Rohre ausgebessert, die Mäuseplage beseitigt und sogar die Mülltonnen erneuert.
Und trotzdem werde ich nicht ausziehen.
Also würde sie wohl auch etwas wegen des Dachs unternehmen müssen. Sie stellte die Lautstärke etwas höher, damit das Tropfen nicht mehr zu hören war.
Mach dich an die Arbeit, Eve. Finde Desiree und Gwenivere, damit du dich auf deine anderen Jobs konzentrieren kannst.
Die Arbeit im Sal’s füllte ihre Abende aus, aber ihr wichtigstes Ziel war ihr Diplom an der Uni. Sie musste in ein paar Stunden in ihrem Seminar »Abnormes Verhalten« eine zehnseitige Arbeit abliefern.
Also sollte ich nicht durch Shadowland streifen und meinen Testpersonen nachspionieren.
Aber sie konnte nicht anders, sie fühlte sich für Desiree, Gwenivere und die anderen verantwortlich.
Bevor sie als Testpersonen an diesem Versuch hatten teilnehmen können, hatten alle einen Haftungsausschluss unterschreiben müssen. Aber Eve betrachtete es dennoch als ihre Pflicht, für ihre Sicherheit zu sorgen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Art Automatismus, dachte sie zynisch. Man wuchs nicht in einer Horde Sozialarbeiterinnen auf, ohne dass ihr Helfersyndrom auf einen abfärbte.
Eve steuerte ihren Avatar durch die Menge der virtuellen Tänzer. Ihre Hoffnung sank, als sie sich Desirees üblichem Ecktisch näherte.
Leer.
Sie war noch immer nicht wieder da.
Also steuerte sie ihren nächsten kritischen Fall an: Die verführerische, sexy Gwenivere, alias Christy Lewis, am Tag Sekretärin, im zweiten Leben Nachtclub-Tänzerin. Christy war jede Nacht hier, in letzter Zeit kam sie aber auch tagsüber vorbei und loggte sich von der Arbeit in das Spiel ein. Das hatte sie Eves Avatar Pandora in der vergangenen Woche bei einem ihrer häufigen Besuche gestanden. Und wenn ihr Chef es herausfand, dann war Christy Lewis ihren Job los.
Das konnte Eve nicht verantworten. Sie machte sich schon genug Sorgen wegen Martha Brisbane. Marthas Desiree war Stammgast sowohl im Ninth Circle, als auch in
Pandora’s Façades Face Emporium,
Eves virtuellem Avatar-Geschäft. Desiree war bisher jede Woche vorbeigekommen, um sich Eves Angebot an gebrauchsfertigen Avataren anzusehen oder sich zu informieren, was es Neues an Körperteilen gab. Martha hatte ihrem Avatargesicht in den vergangenen drei Monaten sechs Upgrades verpasst.
Bis vor ungefähr einer Woche war Martha Brisbane durchschnittlich achtzehn Stunden am Tag in Shadowland gewesen.
Achtzehn Stunden!
Wenn man bedachte, dass die Frau auch schlafen musste, blieb nicht viel Zeit für anderes. Martha war ein »Ultra-User«, eine der vielen, die die negative Kontrollgruppe für Eves Studie bildeten.
Sie hatten so viele Bewerber gehabt, dass sie Probanden ablehnen mussten. Zu viele Menschen lebten ihr Leben in Shadowland.
Wie ich damals,
dachte Eve. Und sie wünschte sich verzweifelt, diese Menschen wieder zurück in die reale Welt zu bringen.
So wie ich es geschafft habe.
Hey, Süße, kann ich dir einen ausgeben?
Eve wandte den Blick von der Menge ab, und betrachtete einen Moment lang konsterniert den Text unten am Bildschirm. Sie fuhr mit der Kamera herum, bis sie in ein sympathisches Gesicht blickte. Ein Qualitätsprodukt, schließlich hatte sie es selbst designt.
Aber das wusste der Spieler nicht. Heute war sie nicht Pandora, sondern Greer, die Privatermittlerin. Und heute suchte Greer nach Christy und hatte keine Zeit für Geplänkel.
Sorry, kein Interesse,
gab sie ein.
Warum bist du dann hier?,
fragte er zu Recht. Schließlich war die Bar vor allem ein Ort, um Kontakte zu knüpfen.
Wirklich, kein Interesse. Schönen Abend noch.
Sie drehte sich um und suchte wieder die Menge ab. Unhöflichkeit war hoffentlich eine Sprache, die er verstand.
Ah! Da war sie, Gwenivere, alias Christy Lewis. Christy war im wahren Leben knappe eins sechzig groß und hatte ein nettes Gesicht, war jedoch keine umwerfende Schönheit. Gwenivere dagegen war stattliche eins achtzig, blond und besaß ein sehr teures Gesicht. Einer von
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