Todesstoß / Thriller
Eves – oder Pandoras – edelsten Entwürfen.
Gwenivere tanzte mit einem attraktiven Avatar, einer von Claudios Modellen. Claudio war der beste, das gab Eve neidlos zu. Sie hatte
Pandora’s Façades
nur ins Leben gerufen, um ihre Testpersonen beobachten zu können, ohne dass sie davon erfuhren.
Ohne dass
überhaupt
jemand davon erfuhr. Am wenigsten Dr. Donner, ihr Betreuer an der Uni.
Unwillkürlich verzog sie das Gesicht. Falls Donner es herausfand … Aber es war müßig, darüber nachzudenken, denn falls das jemals geschah, war nicht nur ihre Studie null und nichtig. Man würde sie wahrscheinlich rauswerfen und ihre akademische Laufbahn an der Marshall-Universität wäre vorbei. Das konnte sie nicht zulassen. Sie hatte sich so bemüht, wieder ins Licht hinauszutreten und sich ein gutes Leben aufzubauen.
Aber zu welchem Preis? Sie hatte an dieses Forschungsprojekt geglaubt, hatte es engagiert vorangetrieben.
Jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Aber das war kein Problem, das sie heute Abend lösen konnte. Christy schien es gut zu gehen, sie flirtete wie üblich. Eve hatte fünf weitere kritische Fälle, drei befanden sich hier in der Bar. Die anderen beiden stöberte sie im Casino Royale auf, wo sie tanzten oder pokerten. Sie konnte sich also beruhigt ihrer Arbeit zu dem Thema »Pathologie der Serienmörder« widmen.
Eve zog eine Grimasse, als ihr bewusst wurde, dass sie mit den Fingern die Narbe in ihrem Gesicht nachzeichnete, die kaum noch zu sehen, aber noch immer vollkommen taub war. Sie musste zu dem Thema überhaupt nichts nachlesen oder recherchieren. Sie wusste mehr darüber, als ein Professor sich wünschen konnte. Und dieses Wissen lauerte in Gestalt jener Stimme, die sie verspottete, stets in ihrem Bewusstsein. Das, was vor fünf Jahren, elf Monaten und sieben Tagen geschehen war, stand – ihr noch immer ins Gesicht geschrieben.
Sonntag, 21. Februar, 23.55 Uhr
Noah schloss müde die Tür auf. Er und Jack hatten eine Stunde damit zugebracht, die Akte des anderen vermeintlichen Selbstmords durchzusehen, ohne eine Verbindung zu Martha entdecken zu können. Nun – eigentlich war es offensichtlich: Beide waren auf genau dieselbe Art umgebracht worden. Aber warum? Und von wem? Und warum diese beiden?
Anschließend hatten sie alle Akten von Selbstmordfällen der vergangenen Monaten überprüft und gebetet, dass sie auf kein ähnliches Szenario stoßen würden. Zum Glück war das nicht der Fall gewesen, aber nach der Durchsicht aller Berichte war Noahs Erleichterung von Trauer und einer Hoffnungslosigkeit durchzogen, die er kaum abschütteln konnte.
Wie leicht hättest du auch zu so einer Akte werden können.
Niedergeschlagen setzte er sich auf sein Bett. Jack hatte kein Verständnis und kein Mitgefühl für Menschen, die sich das Leben nahmen.
Aber ich. Ich verstehe nur allzu gut.
Eines Nachts, vor zehn Jahren, war er nahe dran gewesen. Er hatte genau hier auf der Bettkante gesessen, den Revolver in der einen Hand, ihr Foto in der anderen.
Sein Blick glitt zum Nachttisch zu eben diesem Foto, dessen Rahmen vom vielen Anfassen matt geworden war. Der Junge darauf war erst zwei und hatte starke Ähnlichkeit mit der Frau, die seine Hand hielt. Diese Frau, bei deren Anblick er sich auch zwölf Jahre danach wünschte, er könne nur noch einen einzigen Tag mit ihr haben. Nur einen.
Aber der Tag, an dem er beschlossen hatte, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, lag nicht zwölf Jahre zurück. Erst zwei Jahre nach der Nacht, in der sein Wagen außer Kontrolle geraten war und seine ganze Welt mit sich gerissen hatte, war es so weit gewesen. Zwei Jahre, in denen er immer tiefer gesunken, immer öfter Zuflucht in der Flasche gesucht hatte.
Und auch an jenem Abend, an dem er die Waffe in die Hand genommen hatte, war er betrunken gewesen. Fast betrunken genug, um abzudrücken … aber eben nur fast. Es war Brock gewesen, den er angerufen hatte. Brock, der kam, Brock, der ihn zu den Anonymen Alkoholikern geschleift hatte. Brock, der ihm das verdammte Leben gerettet hatte.
Zehn Jahre,
dachte Noah.
Zehn Jahre trocken.
Aber es gab Augenblicke, in denen der Schmerz noch immer übermächtig war. Dies war ein solcher Augenblick.
Dabei war es weniger Kummer als die Einsamkeit. Das Haus war so still. Zu still. Brock hatte Trina und die Kinder.
Was habe ich? Oder wen?
Er nahm das Buch, das neben seinem Bett lag, falls er nachts nicht schlafen konnte, und zog die Grußkarte zwischen den Seiten hervor, die
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