Todesstunde
schrecklichen Nachricht weniger dicht. Ich hatte am Tag zuvor mein Zivilfahrzeug mit nach Hause genommen, doch als ich auf den Long Island Expressway fuhr, schaltete ich Blaulicht und Sirene ein und drückte das Gaspedal durch.
Statt des überforderten Funkgeräts hörte ich auf meinem iPod bei ohrenbetäubender Lautstärke »Gimme Shelter« von den Stones. Stampfende, durchgedrehte Rockmusik aus den Siebzigern war genau das, was eine auseinanderbrechende Welt brauchte.
Die Antiterroreinheit hatte bereits an der Brücke zur 59th Street eine Kontrolle mit vollem Aufgebot errichtet. Statt anzuhalten, fuhr ich über den Straßenrand und sägte ein paar Hütchen um. Für den Frischling an der Absperrung streckte ich bei siebzig Sachen nur kurz meinen Dienstausweis aus dem Fenster. Zwei weitere Kontrollen, eine an der 50th Street und Third Avenue, die letzte an der 45th Street und Lexington. Mit Sirenengeheul in den Ohren parkte ich hinter einem Krankenwagen und stieg aus.
Hinter stählernen Fußgängerabsperrungen rannten Dutzende von Feuerwehrmännern und Polizisten in alle Richtungen hin und her. Ich nahm kopfschüttelnd meinen Platz unter ihnen ein.
An der Ecke blieb ich mit aufgerissenem Mund vor dem ausgebrannten Lkw stehen.
Durch den Eingang des Bahnhofs erblickte ich Cell, den Leiter der Sprengstoffeinheit. Das Innere sah aus wie ausgehöhlt. Einer der leitenden Feuerwehrmänner der Einsatzzentrale hier vor Ort zwang mich, mir eine Art Overall überzuziehen und eine das ganze Gesicht überdeckende Maske aufzusetzen.
»Ich denke, dein Freund hat nicht gelogen, als er von der nächsten Bombe gesprochen hat«, berichtete Cell. »Sieht nach demselben Plastiksprengstoff wie dem aus der Bibliothek aus.«
Er lächelte, doch seine Augen waren eiskalt vor Wut. Wir alle waren wütend. Auch durch die Maske hindurch roch ich den Tod. Tod und Betonstaub und verbranntes Metall.
Es ließ sich nicht vorhersagen, was als Nächstes passieren würde.
21
Der Rest des Tages war so krass wie jeder andere in meiner Laufbahn auch. Später an diesem Vormittag half ich einem Sanitäter, die Leiche eines alten, kleinen, obdachlosen Mannes zu bergen, der unter dem eingestürzten Gang zum Ausgang Lexington Avenue lag. Ich klappte beinahe zusammen, als ich nach seinen Beinen griff, um ihn in den Leichensack zu legen. Die Beine lösten sich von seinem Rumpf, ebenso wie seine Arme, nachdem ihn die Druckwelle zerstückelt hatte wie ein tranchiertes Hähnchen.
Damit war der Stress aber noch nicht zu Ende, denn ich verbrachte den Nachmittag im provisorischen Leichenschauhaus, um eine Liste der Toten zu erstellen. Es war im Campbell Apartment untergebracht, einer hochpreisigen Cocktailbar und Lounge. Irgendwie passten die Reihen abgedeckter Leichen nicht zu dem glitzernden Kronleuchter.
Am schlimmsten war, als der tote Polizist hereingetragen wurde. In einer privaten Zeremonie wurden den Familienangehörigen die persönlichen Sachen überreicht. Ich ertrug ihr Schluchzen nicht, weswegen ich hinaus und einen der verwaisten Bahnsteige entlangging, um an dessen Ende ein paar Minuten in die Dunkelheit zu starren. Tränen brannten in meinen Augen. Ich wischte sie fort, ging zurück und machte mich wieder an die Arbeit.
Miriam traf ich in der Einsatzzentrale, die in einem Wohnwagen neben dem Haupteingang des Grand Central Terminal auf der 42nd Street eingerichtet worden war. Hinter einer Barrikade auf der Südseite der Straße neben der Überführung drängten sich Journalisten. Bis jetzt nur Vertreter der nationalen Medien. Bald würden die internationalen aufkreuzen, um über die Abenteuer aus der Hölle zu berichten.
»Wir lassen bereits die aus nächster Nähe geführten Handygespräche überprüfen, weil es sich um einen mobilen Auslöser gehandelt haben könnte«, erklärte Miriam. »Ihr besorgt euch die Aufnahmen der Sicherheitskameras aus den nächstgelegenen Geschäften die Straße rauf und runter. Vorläufigen Zeugenaussagen zufolge fuhr gegen sieben Uhr ein Lkw mit großem Kastenaufbau zum Bahnhof. Ein Obdachloser, der auf einer Bank auf der anderen Straßenseite schlief, hat gesagt, er habe vor der ersten Explosion einen Mann gesehen, der eine beladene Sackkarre hineinschob.«
Miriam machte eine Pause und blickte mich merkwürdig an, bevor sie mich näher zu sich heranzog.
»Das ist noch nicht alles, Mike. Heute Morgen ging ein Brief in unserer Abteilung ein. Adressiert an Sie. Ich habe ihn durchleuchten lassen, bevor er
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