Todesstunde
so was nannte man liebevolle Strenge.
»Dad!«, wimmerte Sean, der mit blutender Nase vor dem Schwimmbecken kniete. Hinter ihm lief Wasser aus dem Becken, weil der Plastikrand einen Riss bekommen hatte.
»Hör auf mit dem ›Dad‹-Gejammere, du Niete. Halte dich gefälligst von den Kindern dieses Mannes fern, hast du kapiert?«
»Aber, Dad«, keuchte Sean. »Du hast doch gesagt, ich soll ihnen eine Lektion erteilen.«
»Ja, nun.« Tommy Boy warf mir einen schuldbewussten Blick zu. »Die Lektion wurde gelernt. Du tust den Kindern nichts mehr an, du Miststück. Muss ich dir das auch noch erklären? Hier deine neuen Anweisungen: Wenn sich eins von Mr. Bennetts Kindern auch nur das Knie aufschürft, hast du am besten ein Pflaster parat. Wird einem seiner Kinder noch mal was angetan, wirst du den Rest deiner Ferien im Krankenhaus verbringen.«
»Ja, Dad«, brummte Seany und rannte ins Haus zurück.
»Ehrlich, Bennett«, sagte Flaherty mit zu mir gerichteten Handflächen. »Die ganze Sache tut mir leid. Es ist wirklich mein Fehler. Meine Frau ist für eine Woche nach Irland gefahren, um ihre Mutter zu beerdigen. Ich denke, das mit dem Vatersein habe ich nicht so drauf. Ohne sie klappt hier gar nichts.«
»Es lässt sich eindeutig eine Lernkurve verzeichnen«, lobte ich ihn und schob meine Waffe zurück in das Halfter. »Ich bin einfach nur froh, dass wir diese Angelegenheit endlich aus dem Weg räumen konnten.«
»Von Mann zu Mann«, fügte Seamus hinter mir hinzu.
»Hey, du hast viel Mut gebraucht, um hierherzukommen. Respekt«, sagte Tommy Boy Flaherty, als wir gingen. »Wenn du irgendwas brauchst, egal was, lass es mich wissen. Das gilt für dich auch, Vater.«
»Weiche, Satan«, murmelte Seamus während unseres Rückzugs.
Beim Starten des Wagens stieß ich einen Seufzer aus, der aus dem Abgrund meiner Seele zu kommen schien. Meine Waffe zu ziehen war weit mehr als fahrlässig gewesen. In was war ich da nur hineingeraten?
Als ich losfuhr, tätschelte mir Seamus plötzlich stolz die Wange.
»Wir machen doch noch einen Mann aus dir, Mike, mein Junge.« Er zwinkerte mir mit seinen blauen Augen zu. »Genau so erledigt man die Dinge im West-Side-Stil.«
48
Ohne das Licht einzuschalten, setzte sich Berger in der wuchtigen, wunderschönen Bibliothek in den Ledersessel und drückte die Abspieltaste der Fernbedienung. Der Blu-Ray-Spieler begann zu surren und zu summen, dann erschien auf dem 103-Zoll-Plasmabildschirm die New York Public Library.
Die Kamera zitterte leicht bei der Aufnahme aus der Ich-Perspektive, doch das Bild an sich, die Farben und die Straßengeräusche kamen sehr lebhaft zur Geltung. Man konnte beinahe die warmen Bretzeln und den Sommerschweiß riechen.
Berger sah sich den Film des ersten Verbrechens mit der gefälschten Bombe an, aufgenommen mit einer versteckten Glasfaserkamera. Selbstverständlich war die gesamte Arbeit auf Film festgehalten. Jetzt war es an der Zeit, sie zu bearbeiten und zu glätten. Immer wieder zu glätten.
Er drückte den Vorlauf und den Rücklauf, während er über seine Schuljahre in Lawrenceville nachdachte, das höchst angesehene Internat in der Nähe von Princeton.
Als molliges, langsames Kind war er von seinem Vater in der überteuerten Einrichtung angemeldet worden, damit man aus ihm einen Gentleman machte. Doch es klappte nicht. Ganz im Gegenteil. In der neunten Klasse hatte er sich mit seinem Körperbau, seinem einzigartigen künstlerischen Gespür und seinen unüblichen Interessen einen Stabreim-Spitznamen eingehandelt, der ihm alle Ehre machte: Bizarrer Blähbauch-Berger.
Er hatte ernsthaft überlegt, an seinem fünfzehnten Geburtstag Selbstmord zu begehen, bis er unerwartet einen Freund gefunden hatte. Sein neuer Zimmergenosse, Javier Souza, ein kleiner Junge aus einer reichen brasilianischen Familie, nannte ihn nicht nur bei seinem richtigen Namen, sondern teilte auch einige seiner seltsamen, dunklen Interessen.
Und es war Javier gewesen, der ihn dazu angestiftet hatte, die Schulbibliothek während des dort stattfindenden Filmabends in der Woche vor den Weihnachtsferien abzufackeln. Um seinen Mut unter Beweis zu stellen, hatte Berger einen Kanister Feuerzeugbenzin sowie Ketten und Schlösser gekauft, um die Ausgänge des Gebäudes zu verriegeln.
Hätte der misstrauische Ladenbesitzer nicht den Schuldirektor informiert, hätte er seinen Plan verwirklicht, 1968 seine gesamte Klasse auszulöschen. Stattdessen wurde er der Schule verwiesen, und hätte
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