Todesstunde
Selbst die Schausteller lagen schon in ihren Betten und schliefen.
Ich fühlte mich wie ein Stück Dreck. Ich war nicht in der Lage, die Stadt zu schützen. Nicht einmal meine Kinder konnte ich vor diesen Blödmännern schützen. Jetzt hatte ich auch noch den lang ersehnten Höhepunkt unserer Ferien verpasst.
Ich blickte hinauf zu den vor dem dunklen Himmel hinaufragenden Fahrgeschäften. So deprimiert war ich den ganzen Tag nicht gewesen, und das sollte was heißen. Traurig fuhr ich nach Hause.
Doch mein Tag sollte noch lange nicht vorbei sein. Oh, nein. Als ich am Haus entlangfuhr, winkte mich Seamus von der Veranda aus zu sich. Er trug ein schwarzes T-Shirt und schwarze Jeans, doch sein Priesterkragen war nirgends zu sehen. So, so.
»Endlich«, stöhnte er und klappte beim Einsteigen sein Telefon zu. »Du brauchst nicht zu parken. Wir haben einen Termin.«
»Wovon redest du?«, wollte ich wissen.
»Das wollte ich dir angesichts dessen, was in der Stadt passiert, nicht erzählen.«
»Mir was nicht erzählen?«
Seamus seufzte. Der eiskalte Blick aus seinen blauen Augen jagte mir Angst ein. »Es gab einen weiteren Zwischenfall mit den Flahertys. Beim Volksfest. Der fette Junge, Sean, hat Eddie neben einem der Fahrgeschäfte geschubst. Eddie fiel auf Trent, und Trent stürzte über ein Geländer.«
»Was?«, rief ich.
»Halt, halt, es geht ihm gut. Ein bisschen durcheinander, wie wir alle, aber gut. Ich bin durchgedreht und habe die örtliche Polizei angerufen. Aber dann wurde die Sache komisch. Die beiden Polizisten, die kamen, schienen sich nicht allzu sehr um den Fall zu kümmern. Deswegen habe ich den Pfarrer gefragt. Du kommst bestimmt nicht drauf, wie der stellvertretende Leiter des Polizeireviers heißt.«
»Das gibt’s doch nicht! Noch ein Flaherty?«
»Jetzt ist auch klar, warum sie wussten, dass du Detective bist«, erklärte Seamus.
Ich schüttelte, innerlich kochend vor Wut, den Kopf. Nichts ging mir mehr auf den Senkel als ein Kollege, der seine Macht missbrauchte.
»Diese Leute sind eine Geißel«, fuhr Seamus fort. »Ich kannte sogar ihren Vater, als ich in dem übervölkerten Bezirk arbeitete, bevor ich aufs College ging. Er war ein grausamer Kredithai. Er hat kurz vor dem Abendessen seine Runden gedreht, und wenn ein Mann nicht bezahlen konnte, hat er ihn gnadenlos vor den Augen seiner Kinder zusammengeschlagen.«
»Der Vater des Jahres«, fiel mir nur ein.
»Deswegen müssen wir gleich rüberfahren und der Sache ein Ende setzen. Dieser Schwachsinn muss aufhören. Ich habe ein paar Strippen gezogen und vereinbart, dass wir einen Rat abhalten.«
»Einen Rat abhalten?«, rief ich. »Wer bist du, Vater Tony Soprano?«
»Wenn man in Hell’s Kitchen aufwächst, kennt man eben ein paar Leute. Einige schulden mir noch einen Gefallen. Was willst du? Wir müssten schon längst drüben sein. Es ist Zeit, die Angelegenheit von Mann zu Mann zu erledigen. Im West-Side-Stil.«
»Wo drüben?«, schrie ich ihn an.
»Bei den Flahertys, Mike. Sei vorsichtig. Und halte deine Waffe griffbereit.«
46
Wie hatte ich mich bloß in diese Situation bringen können? Auf der Fahrt zurück Richtung Rockaway Inlet zweifelte ich an meinem Verstand. Warum hatte ich mich auf dieses Treffen mit dem Beigeschmack von irischer Mafia eingelassen? War ich auf der Arbeit eingeschlafen und träumte jetzt nur? Natürlich nicht. Wenn man lange genug mit einem irischen, spleenigen Großvater der alten Schule rumhängt, wird das Abartige zur Normalität.
Wir hörten ein Feuerwerk, noch bevor wir in die Straße bogen, in der die Flahertys in ihrem klapprigen Haus wohnten. Raketen pfiffen, Knallfrösche betäubten unsere Ohren. Eine riesige gelbe Blume zerplatzte hinter ihrem Grundstück.
»Ich dachte, der 4. Juli wär schon vorbei«, sagte ich beim Aussteigen. »Meinst du nicht, der Vatikan hat was dagegen?«
»Folge mir, und sei still«, wies Seamus mich an. »Diese Gangster hören nur auf Männer.«
Ich schüttelte den Kopf. Mein alter Kumpel, Mr. Pit Bull, versuchte ein Loch in den Maschendrahtzaun zu beißen, als wir die Stufen hinaufgingen. Doch diesmal hörte ich das bekloppte Vieh nicht, weil das Geschützfeuer hinterm Haus noch lauter war.
Als niemand die Tür öffnete, gingen wir ums Haus herum nach hinten. Schwefelgeruch hing in der Luft, was ganz gut passte, da ich das Gefühl hatte, durch das Tal der Toten direkt aufs Tor zur Hölle zuzugehen.
Die Rückseite wurde fast vollständig von einer großen
Weitere Kostenlose Bücher