Todesstunde
auf die Wange. Entsprach nicht gerade dem FBI-Protokoll, fühlte sich aber gut an.
»Endlich Verstärkung.« Ich nahm ihr die Tasche ab. »Ehrlich, Emily, du bist ein Labsal für meine wunden Augen.«
»Ich finde es auch schön, dich zu sehen, Mike«, sagte sie und drückte meine Hand noch einmal. »Ich bin froh, dass ich gekommen bin. Du siehst prima aus.«
»Ja, als wäre ich einem Modeblatt entsprungen.« Ich verdrehte die Augen. »Meine Tränensäcke sind größer als deine Reisetasche.«
»Aber dein Gepäck ist schöner.« Sie kniff mir spielerisch in die Wange.
Ich grinste sie an wie ein Depp. Überschwängliche Aufmerksamkeit seitens gut aussehender Frauen war nie schlecht. Der Beginn unserer Wiedervereinigung gestaltete sich ganz gut.
»Womit fangen wir an?«
»Ideen sammeln«, antwortete ich und führte sie Richtung Treppe. »Aber dazu werden wir dein Hirn nehmen müssen. Meins ist vor drei Tagen abgestürzt.«
50
Zwanzig Minuten später standen Emily und ich im voll gestopften Großraumbüro der Mordkommission im zehnten Stock des One Police Plaza. Überall klingelten Telefone, doch niemand ging ran, weil alle anderen Detectives der Sondereinheit den Spuren des Falls nachgingen, die mittlerweile in drei Richtungen verliefen. In diesem wahnsinnigen Sommer war keine Zeit zum Ausruhen.
Hinter den durcheinanderstehenden Schreibtischen setzten wir uns vor ein einfaches Anschlagbrett auf Rollen. Daran hingen ein riesiger Stadtplan von New York sowie Berichte der einzelnen Verbrechen und Tatorte. Vom Mittelpunkt aus blickte uns das Phantombild des Entführers entgegen wie eine Spinne aus ihrem Netz.
Mit verschränkten Armen und schweigend betrachtete Emily die Tafel wie eine Kunstkritikerin eine neue Installation. »Gib mir einen kurzen Abriss von der Entführung, Mike«, forderte sie mich auf.
»Laut dem Vater ist unser Entführer weiß, Rechtshänder, geht am Stock und humpelt, ist dünn und etwa eins achtundsiebzig groß«, begann ich langsam mit der Schilderung dessen, was Angela Cavuto passiert war. »Er sei auch kultiviert und elegant gewesen. Er trug nicht nur einen maßgeschneiderten Anzug, sondern sprach in überzeugender Weise von Hedgefonds-Investitionen.«
»Es ist wirklich unglaublich, Mike.« Emily zog einen Hefter mit Gummibändern aus ihrer Tasche. »Gestern habe ich unendlich viele Infos zu berühmten New Yorker Verbrechen gefunden. Ich hab gehofft, dass das nicht wahr ist, aber ich glaube, es trifft alles zu.«
»Was hast du herausgefunden, Emily?«
»Ich glaube, dieser Kerl hat wieder zugeschlagen. Die Entführung ist ebenfalls eine Nachahmung. Eher sogar ein Ebenbild.«
»Wovon? Von dem Lindbergh-Fall?«, fragte ich verwirrt.
»Nein. Es gab noch eine weitere scheußliche Entführung in den Zwanzigern. Und rate mal, wo – in Brooklyn. Damals wurde sie das Jahrhundertverbrechen genannt. Ein pädophil veranlagter, blutrünstiger Soziopath namens Albert Fish wurde als ›Vampir von Brooklyn‹ bezeichnet, nachdem er ein Mädchen entführt und getötet hatte.
Und seine Vorgehensweise war nicht nur ähnlich. Aus dem, was du mir gerade erzählt hast, ist sie genau gleich. Fish trat als Arbeitgeber auf und beantwortete die Anzeige eines achtzehnjährigen Jungen, der Arbeit suchte, verschwand aber anschließend mit dessen zehnjähriger Schwester unter dem Vorwand, sie zu einer Geburtstagsfeier mitnehmen zu wollen.«
»Sch…! Nein!«, rief ich und sank in einen Stuhl.
Emily nickte.
»Sag mal, hat er dem Vater etwas mitgebracht?«, fragte sie.
»Erdbeeren und irgendein Schmierzeug«, antwortete ich.
»Hüttenkäse. Genau. Scheiße! Genau dasselbe! Der verrückte Bombenleger, dann Sams Sohn und jetzt der Vampir von Brooklyn. Der Kerl hat ein drittes berühmtes Verbrechen durchgezogen. Das ist nicht gut, Mike. Dieser Fish war das personifizierte Böse. Neben ihm wirkt Sams Sohn wie ein Freiwilliger in einer Suppenküche. Er war einer der schlimmsten Pädophilen und Kindermörder aller Zeiten. Er hat seine Opfer nicht nur getötet, er hat sie auch verspeist.«
Ich knallte mit der Faust auf den Schreibtisch neben mir, dann auf meinen Schenkel. Emily und ich saßen einfach nur da und lauschten dem Rauschen der Klimaanlage. An der Tafel hing eine Weihnachtskarte der Familie Cavuto vom Jahr zuvor, auf der uns Angela unter einem glitzernden Heiligenschein zulächelte.
51
Etwa eine Stunde später saßen Emily und ich im Pausenraum, wo ich uns frischen Kaffee kochte. Plötzlich kam eine
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