Todesstunde
Verbrechen Wiederaufleben lassen wollte, hätte er sie in genau derselben Weise an genau denselben Orten durchgeführt. Hat er aber nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Emily.
»Vielleicht geht es ihm gar nicht ums Nachahmen. Vielleicht ist die Nachahmung die Tarnung. Wir müssen die Opfer in einem anderen Licht betrachten. Vielleicht gibt es zwischen ihnen eine Verbindung.«
57
Der Rest meines Tages war blöd, nervig und tierisch lang. Um unserer neuen Theorie nachzugehen und eine Verbindung zwischen den Opfern zu finden, trennten Emily und ich uns und befragten so viele Familien der Opfer, wie wir konnten. Jedes Gespräch war quälend. Alle Familienangehörigen, mit denen ich mich zusammensetzte, waren noch immer verwirrt und wütend, litten unter dem Verlust und der Trauer. Laura Habersham, die Mutter des Mädchens, das in Queens im Auto zusammen mit ihrem Liebhaber, dem Professor, getötet worden war, verfluchte mich sogar, bevor sie vor ihrer Haustür in Tränen aufgelöst auf die Knie sank.
Ich machte ihr natürlich keine Vorwürfe. Ich half ihr einfach wieder auf, stellte meine Fragen und ging weiter zur nächsten trauernden Familie auf meiner Liste.
Als ich fertig war, hatte ich zwölf Stunden damit zugebracht, kreuz und quer durch New Yorks Außenbezirke zu kutschieren, hatte aber nur vier der acht Familien erreicht. Dennoch hatten wir eine Unmenge an Daten zusammengetragen, die eine Unmenge an möglichen Verbindungen in sich bargen. Kurz gesagt, Polizeiarbeit in Reinform – man hatte entweder zu viel oder zu wenig Informationen.
Gegen zehn Uhr abends bog ich verschwitzt, hundemüde und dennoch ungebrochen um die Ecke der 91st Street auf die belebte West End Avenue. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stolperte ich über den Bordstein und konnte den Absturz des chinesischen Essens und des Sechserpacks Bier, die ich auf einem Aktenkarton balancierte, gerade noch verhindern. Als mein Telefon klingelte, blieb ich nicht stehen, sondern marschierte wie ein tapferer Soldat eineinhalb Straßenblocks weiter auf die Markise vor meinem Haus zu. Todmüde Polizisten in Bewegung neigen dazu, in Bewegung zu bleiben.
Da die Gefahr bestand, dass ich es an diesem Abend nicht lebend nach Breezy Point schaffen würde, musste ich das Beste daraus machen und allein in meiner Wohnung schlafen.
Die Haustür war verschlossen, was ärgerlich war, wenn man wusste, wie viel ich für den Rund-um-die-Uhr-Portiersdienst bezahlen musste. Statt den schweren Karton abzustellen, drehte ich mich um und klopfte mit der Rückseite meines dicken Schädels gegen das dicke Glas.
Und kippte beinahe nach hinten, als die schwere Tür zwei lange Minuten später plötzlich geöffnet wurde.
»Mr. Bennett, es tut mir leid«, entschuldigte sich Bert, der weinerliche Portier der Abendschicht, hastig, während er seine Krawatte festzog. »Alle aus dem Haus sind bereits zurückgekehrt, sonst hätte ich noch hier gestanden. Ich dachte, Sie und die Kinder sind in Urlaub. Wir haben Sie erst nächste Woche zurückerwartet.«
Der alte Portier gähnte und machte keine Anstalten, mir zu helfen.
»Ja, nun, Sie sehen hier einen Menschen, der einen Arbeitsurlaub macht, Bert«, sagte ich, während ich um ihn herumging.
Bert hielt mich auf halbem Weg zum Fahrstuhl sogar noch an, um mir die Briefe und Pakete aufzuladen.
»Keine Sorge, Mr. B. Ihr Geheimnis ist bei mir sicher«, flüsterte der alte Knacker und zwinkerte in Richtung meiner sechs Flaschen Bier. »Ich habe in der Post über Ihren Fall gelesen. Kann Ihnen ja keiner vorwerfen, dass Sie mal auf den Putz hauen müssen.«
Ich verdrehte die Augen, als sich endlich die Türen des Fahrstuhls schlossen.
Genau das, was ich in meinem Leben nicht brauchte: noch einen alten Schlaumeier. Genau deswegen freute ich mich auf einen Seamus-freien Abend.
58
Ich ließ die Aktenkiste mit den Daten der Opfer auf den Boden des Flurs in meiner Wohnung plumpsen und blieb einen seltsamen Moment lang lauschend stehen. Nach dem donnernden Chaos, das in unserer Vierzimmerwohnung gewöhnlich herrschte, war diese Stille eine fast einzigartige Erfahrung.
Beim Durchsehen der Post musste ich lächeln, als ich ein Versandrohr in Händen hielt. Ich ging ins Zimmer der großen Jungs und hängte für den Geburtstag meines Sohnes Brian ein Poster des Baseballspielers Mariano Rivera Fathead auf. Brian würde vor Freude an die Decke springen.
»Nur wir zwei heute Nacht, Mo«, säuselte ich dem lebensgroßen Wandbild zu.
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