Todesstunde
mich leicht auf. Der Fall gehörte bis morgen noch mir. Vielleicht könnte ich das ausnutzen. Plötzlich fiel mir Mary Catherines Frage ein, wem ich an diesem Abend einen Gutenachtkuss geben würde.
»Ich bin hellwach, Emily. Frag das blöde Ding, ob es weiß, wo die West End Avenue ist.«
61
Im glitzernden Licht eines Kristallleuchters hob Berger eine warme Muschel an seine Augen wie ein Juwelier einen seltenen Edelstein. In der Ecke des Zimmers wurde auf dem Flügel eine Kadenz aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 gespielt. In d-Moll, wenn sich Berger nicht täuschte. Aber er täuschte sich nicht, da er, wie Wittgenstein, über die Gabe des absoluten Gehörs verfügte.
Berger öffnete die Muschel gekonnt mit den Daumen und kratzte das glibbrige, blasse Fleisch heraus. Sein lautes Schlürfen, als er es in seinen Mund sog, übertönte kurz das Klavierspiel.
Berger kaute langsam, maximierte das Gefühl in seinem Mund. Er liebte frische Muscheln. Das Aroma von tiefblauem Meer. Die Muscheln an diesem Abend hatten in einer einfachen, perfekten Brühe aus Zitrone, Weißwein und Estragon gezogen. Die Damastserviette in seinem Hemdkragen war nass von dieser Brühe, was das Erlebnis noch steigerte.
An den meisten Abenden liebte er die Vielfalt beim Essen, doch manchmal, wie heute, packte ihn eine Vorliebe. Dann hielt er sich stundenlang an einer Sache fest.
Es war eine Art Wettbewerb. Ein kulinarischer Marathon.
Er schluckte, rülpste und ließ die Muschelschale in die bereits volle Schüssel neben sich fallen. So viele Muscheln, so wenig Zeit.
Er nahm die nächste dunkle Muschel in die Hand, als die Musik wechselte. Kellner kamen aus der Küche heraus, schoben einen riesigen, weißen Geburtstagskuchen auf einem silbernen Rolltablett heraus. Die Wunderkerzen auf der Torte blitzten in dem schwach beleuchteten Esszimmer.
»Nous vous souhaitons un joyeux anniversaire« ,sangen die Bediensteten. »Nos voeux de bonheur profonds et sincères. Beaucoup d’amour et une santé de fer. Un joyeux anniversaire! «
Es war Bon Anniversaire, die französische Version von Happy Birthday.
Berger schwenkte seine Muschel wie ein Dirigent den Taktstock. Es war ihre Art des Abschieds, wurde ihm bewusst. Dies war sein letztes Abendessen.
Am Ende des Liedes, als die Bediensteten gehen wollten, klopfte Berger mit der Gabel gegen sein Weinglas.
»Nein, nein, bitte warten Sie«, verlangte er. »Sommelier, bitte. Für jeden ein Glas, einschließlich Ihnen. Holen Sie den Champagner.«
Einen Moment später wurden Servierwagen mit antiken, silbernen Eiskübeln aus der Küche hereingeschoben. In den Kübeln standen Flaschen mit 97er Salon Le Mesnil, dem besten aller Champagner. Hinter dem Servierwagen traten alle Bediensteten heraus – die Kellner, der Tischkellner, der Oberkellner, der Chefkoch und die Beiköche. Selbst der Tellerwäscher.
Berger nickte. Korken knallten. Gläser wurden gefüllt.
»All die Jahre haben Sie mich gut und würdevoll bedient.« Berger hob sein Glas. »Die glücklichsten Momente meines Lebens habe ich hier mit Ihnen in diesem Zimmer verbracht. Sie haben mich sozusagen ein Leben lang mit einem Luxus versorgt, den ich ohne Ihre tadellose Unterstützung nie erlebt und mir noch nicht einmal erträumt hätte. Dafür erlauben Sie mir, Ihnen allen Skol, Salud, Slâinte und L’Chaim zu sagen.«
Die Bediensteten lächelten und nickten. Der Sommelier, der Oberkellner und der Chefkoch stießen mit ihren Gläsern an, tranken und stellten sie ab. Einer nach dem anderen defilierte an Berger vorbei, wünschte ihm alles Gute und verschwand dann wieder von der Bildfläche.
Der Oberkellner und der Chefkoch waren die Letzten.
»Mein Bruder wird morgen die Tische und Stühle abholen, Sir«, sagte der Oberkellner. »Es war mir eine Freude, all die Jahre hierher, in Ihr Heim kommen und Sie auf diese einzigartige Weise bedienen zu dürfen. Ich hoffe, Sie waren zufrieden und konnten wenigstens annähernd die Gelegenheiten zum Speisen genießen.«
»Sie haben hervorragende Arbeit geleistet. Wirklich hervorragend«, lobte Berger, der ungeduldig darauf wartete, sich seinem letzten Teller Muscheln widmen zu können.
»Mr. Berger, bitte gestatten Sie mir noch einen Augenblick«, hielt Michel Vasser, der große, bärtige Chefkoch, ihn auf. Er war in Lyon geboren, hatte im Cordon Bleu gelernt und Anfang der Achtzigerjahre sogar den Bocuse d’Or gewonnen.
»Es war wirklich eine Freude, Sie in den vergangenen zehn Jahren bedienen zu
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