Todesstunde
Rand ihrer Bierflasche hinweg an.
Ich lächelte zurück. »Hey, vielleicht ist er sogar besser als du.«
Unsere Unterhaltung plätscherte locker dahin. Fast zu locker. Schossen ein paar Funken zwischen uns hin und her? Ich würde sagen, ja, nachdem ich das Gefühl hatte, den Rest meines Lebens hier über den Lichtern der Stadt mit Emily sitzen und Bier trinken zu können. Am liebsten hätte ich den Kellner verhaftet, als er uns die Rechnung brachte.
Nur widerwillig hielten wir den Fahrstuhl im sechsten Stock an, wo ihr Zimmer lag.
»Dann bis morgen, Mike«, verabschiedete sie sich nach einem seltsamen Moment, in dem ich wahrscheinlich etwas wie »Hey, wie wär’s mit einem Schlummertrunk in deinem Zimmer?« hätte sagen sollen.
»Ja, dann bis morgen«, sagte ich.
Sie zog meine Krawatte zurecht, bevor sie in den Flur flüchtete.
Idiot, schrie ich mich innerlich an.
»Emily«, sagte ich, nachdem mir eine der Fahrstuhltüren an den Hinterkopf geknallt war.
»Ja?«
»Danke.«
»Ich habe nichts getan.«
»Oh, doch, glaub mir«, erwiderte ich. »Das hast du.«
55
Ich war mir nicht sicher, wie spät es war, als ich im Dunkeln und schwitzend in meinem Schlafzimmer im Sommerhaus aufwachte. Es war noch früh. Viel zu früh.
Nach ein paar Minuten wusste ich, dass ich nicht wieder einschlafen würde. Also beschloss ich, mein bereits eingeschaltetes Hirn zu nutzen und mich auf die Arbeit zu schleichen, während die anderen noch schliefen. Abgesehen davon war Freitag. Vielleicht würde es mir gelingen, früher Feierabend zu machen und dem Wochenendverkehr zuvorzukommen. Das jedenfalls war mein Plan, und an den klammerte ich mich.
Die Sonne ging gerade hinter mir auf, als ich nach Manhattan hineinfuhr. An einem Zeitungsstand hing die Titelseite der Post mit der Aufnahme der Sicherheitskamera unseres Verdächtigen unter der Überschrift »Das Gesicht des Bösen«. Endlich hatte die Presse mal was richtig gemacht. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.
Ich war so früh dran, dass sich vor dem One Police Plaza noch keine Pressevertreter drängten. Tja, der frühe Vogel überlistet die Würmer. Der noch benommene Wachmann hob die Schranke und ließ mich auf den Parkplatz fahren.
Auf meinem Schreibtisch im noch leeren Großraumbüro lag ein Stapel Nachrichten von der Nachtschicht. Ich hoffte auf einen Tipp, der sich durch das neue Foto des Täters ergeben hatte, doch die Nachrichten stammten nur von fünfzehn Spinnern, die die Taten gestanden, und zwei medial veranlagten Menschen, die ihre Hilfe anboten.
Ich beförderte sie in meinen zylinderförmigen Spam-Ordner in der Ecke meines Arbeitsplatzes, wo sie hingehörten. Anschließend erledigte ich rasch ein paar Anrufe bei Polizisten, die wir an ehemaligen Tatorten postiert hatten.
Auch dort hatte sich noch nichts ergeben. Der Mörder war nicht zurückgekommen. Aus meinen E-Mails erfuhr ich, dass die Gerichtsmedizin an dem Kinderwagen, in dem Angela gesessen hatte, keine Spuren gefunden hatte. Trotz unserer Fortschritte lag unser Ziel noch in weiter Ferne.
Ich ließ meinen Blick durchs leere Büro gleiten und beschloss, etwas ganz Schlaues zu tun. Ich versuchte mir zu überlegen, was Emily Parker tun würde. Sie würde erst einmal tief Luft holen und sich alles geduldig, nüchtern und ohne sich frustrieren zu lassen ansehen. Auch wenn mir die Aufgabe unmöglich erschien, wollte ich es versuchen. Ich kochte frischen Kaffee und räumte meinen Schreibtisch auf.
Dann setzte ich meine Lesebrille auf und ging die Dateien durch, die Emily für mich über Nachahmungstäter zusammengestellt hatte. Einer fiel mir besonders auf, ein Täter, der Anfang der Neunzigerjahre als Serienmörder aufgetreten war.
Er hieß Heriberto Seda, ein geistesgestörter junger Mann aus dem Osten von New York, aus Brooklyn. Er hatte mit selbstgebastelten Pistolen drei Menschen getötet und vier weitere verletzt. In Nachrichten, die in der Nähe der Opfer lagen, hieß es, er sei der berühmte Tierkreismörder aus San Francisco aus den Sechzigern, der nach New York umgezogen war. Als er endlich geschnappt wurde, erzählte er der Polizei, er habe sich mit dem Tierkreismörder identifiziert, weil dieser eine Stadt terrorisiert habe, ohne jemals geschnappt worden zu sein.
»Ich brauchte Aufmerksamkeit«, hatte Seda gesagt. »Einmal in meinem Leben fühlte ich mich wichtig. Ich war einsam, spürte nur Schmerz. Ich habe keine Freunde.«
Mit diesem Gedanken im Kopf holte ich mir frischen
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