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Todestanz

Todestanz

Titel: Todestanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margie Orford
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drehte die Dusche auf, streckte das Gesicht dem Wasser entgegen und versuchte den Tag abzuwaschen. Es dauerte lange, bis sie das Wasser wieder abdrehte.
    Clare trocknete ihre Haare, drehte sie zu einer Schnecke und befestigte sie mit einer Nadel auf ihrem Scheitel. Dann sah sie in den Spiegel. Dunkle Ringe unter den klaren blauen Augen. Zu viel Kaffee, zu wenig Schlaf. Sie löschte die Ringe mit einer Abdeckcreme aus und brachte mit einem Pinsel Farbe auf ihre Wangen. Ihr öffentliches Gesicht.
    Sie war am Verhungern. Im Kühlschrank standen ein Körbchen Erdbeeren, ein Glas Mayonnaise und Whisky. Und Katzenfutter, das sie Fritzi in eine Schüssel kippte. Clare entschied sich für die Erdbeeren und sah beim Essen aus dem
Fenster auf den bleichen Mond, der in einer Sichel über Lion’s Head stand. In die kalte Luft vom Atlantik mischte sich irgendwann der Gebetsruf des Muezzins, der über dem melancholischen Brummen des Spätnachmittagsverkehrs zum Gang in die Moschee mahnte. Die Erdbeeren waren bald aufgegessen. Der Whisky lockte, aber das war auf leeren Magen keine gute Idee, und schon gar nicht heute Abend.
    Duschen. Haare. Gesicht. Essen.
    Anziehen.
    Das kam als Nächstes.
    Im Gästezimmer wühlte Clare in ihrer Unterwäscheschublade und fand einen schwarzen Slip, aber keine Strümpfe. Sie schüttelte das Kleid aus, streifte es über den Kopf und wartete, bis sich die schwarze Seide an ihre Haut geschmiegt hatte. Sie schlüpfte in ihre neuen Schuhe, drehte sich vor dem Spiegel und ließ das Kleid über den nackten Beinen kreisen wie ein Kind, das mit den Sonntagssachen seiner Mutter Verkleiden spielt.
    Die Handtasche stand im Schlafzimmer auf dem Boden. Sie sah sie kurz durch.
    Handy.
    Kamm.
    Führerschein.
    Lippenstift.
    Schlüssel.
    Pistole.
    Sie nahm sie heraus und hielt sie in der Hand, bis das Metall sich auf der Haut erwärmte. Keine ihrer Schwestern hatte etwas für Schusswaffen übrig, und sie wollte Julia später noch treffen. Also legte sie die Pistole in den Safe neben ihrem Bett. Weil sie noch etwa eine Stunde Zeit hatte, machte sie sich eine Tasse Tee und ging damit in ihr Arbeitszimmer.
    Clare hatte den Raum als einsamen Adlerhorst designt und
das Mobiliar auf das absolute Minimum beschränkt. Regale als Raumteiler, Schreibtisch, Stuhl. Die Regale waren mit Akten, Büchern und ihren Dokumentarbändern vollgestellt. Die Filmausrüstung stand aufgestapelt auf dem Boden neben dem Schreibtisch, den Clare von ihrem Doktorvater geerbt hatte und der den Laptop auf der verschrammten Eichenplatte deplatziert wirken ließ. Die eine Wand diente als Pinnbrett und war mit Notizen, Zeitungsausschnitten, Fotos und Einladungen behängt. Zwei weitere Wände waren mit einer riesigen Luftbildkarte bedeckt. Die vierte Wand war aus Glas und bot ihr einen ständig wechselnden Ausblick auf den Ozean. Auf ihrem Schreibtisch lagen die Endfassungen für ihre Fernsehserie Missing. Jeweils auf siebenundzwanzig Minuten geschnitten, um den Slot zur besten Sendezeit zu füllen. Jede Folge trug den Namen eines Mädchens; in jeder wurde ein anderes vermisstes Kind porträtiert. Die Schnellen und die Toten, Überlebende und Opfer. Nicht immer leicht auseinanderzuhalten.
    Clare kramte in dem Karton unter ihrem Schreibtisch. Sie hatte die Bänder schon weggepackt, jene Sequenzen, die in anderen Sendungen Verwendung finden konnten. Sie zog das Band heraus, das sie noch einmal ansehen wollte. Das Band, das ihr keine Ruhe ließ, das Band, das ihr auf Mrs Adams’ Frage hin wieder eingefallen war.
    Pearl.
    Die Kamera hatte sie fest ins Visier genommen. Sie blickte direkt hinein, Kopf und Schultern umrahmt von dem Licht, das durch das Fensterrechteck sickerte. Die Haare kurz und drahtig; der Hals fest verankert in Schultern, die schon früh den Vorteil von schierer Kraft entdeckt hatten und rücksichtslos darauf hintrainiert worden waren. Trotzdem schaffte sie es nicht einmal mit ihrer breitbeinigen Pose, dem Männerhemd, den ausgebeulten Khakis und den festen Stiefeln
die zerbrechlichen Knochen, die schmalen Hand- und Fußgelenke vergessen zu machen.
    Â»Erzählen Sie mir von sich.« Clare zuckte zusammen, als sie ihre eigene Stimme aus dem Off hörte.
    Das Mädchen im Gegenlicht antwortete nicht gleich; doch diesmal, beim zweiten Ansehen, merkte Clare, wie Pearl sich innerlich wappnete. Sie fasste nach der Cola vor ihr, nahm einen

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