Todestanz
Schluck und stählte sich, während sie wieder in die Kamera sah, für ihr Geständnis.
»Nennen Sie mich einfach Pearl.« Ihre Stimme war vom jahrelangen Rauchen rau. »Meinen Nachnamen braucht niemand zu wissen. Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und bin hier groà geworden.« Sie deutete an der Kamera vorbei auf die Sozialbauten aus Hohlblocksteinen, die mit trocknender Wäsche beflaggt und mit Graffiti verziert waren; in den Eingängen lungerten Männer mit versteinerten Mienen herum.
»Das ist kein Platz für eine Frau.«
Clare hatte Pearls rastlose Finger mit den bis auf die rosa Halbmonde abgekauten Nägeln herangezoomt.
»Und es ist kein Platz für kleine Mädchen. Wenn ich Ihnen meine Geschichte erzählt habe, werden Sie wissen warum.«
AuÃer ihnen war niemand im Raum, nur das tröstliche Surren der Kamera. Pearl hatte gelbbraune Augen â Tigeraugen  â, aber das linke hing leicht herab; eine Narbe teilte Braue und Lid, bevor sie sich auf der hohen, weiten Fläche ihrer Wange verlor.
»Wollen Sie das wirklich?«, fragte Clares Stimme wieder aus dem Off.
»Wie soll jemand von meinem Geheimnis erfahren, wenn ich mich immer verstecke?« Pearls Hände drehten sich nach auÃen und stellten eine Frage, die sie bereits beantwortet hatte.
»Ich heiÃe Pearl, und das ist meine Geschichte«, wiederholte
sie, diesmal nicht an Clare gewandt, sondern an ihre unsichtbaren Zuschauer.
»Meine Mutter hat es nicht aufgehalten. Meine GroÃmutter hat es auch nicht aufgehalten, dabei hätten sie das ganz leicht tun können, sie hätten mir nur sagen müssen, wer sie waren, wer mein Vater war. Wenn sie dafür gesorgt hätten, dass ich ihre Geheimnisse im Herzen trage, hätte ich sie als Waffen einsetzen können. Dann hätte ich mich schützen können.«
Pearl beugte sich vor, bis ihr Gesicht den Bildschirm ausfüllte.
»Sie hätten mich beschützen können.«
Keine Tränen in den Augen: Dafür war es zu spät.
»Erzähl weiter, Pearl.« Wieder spürte Clare, wie belastend es war, ein Geständnis zu hören, diejenige zu sein, die Fragen stellte und die scheinbar die Last des Mädchens linderte, indem sie mit ihrer Kamera die Geschichte, die Geheimnisse, den Schmerz aufzeichnete. »Erzähl von Anfang an.«
»Ich dachte immer, dass ich wüsste, wo ich anfangen soll. Dass ich dorthin zurückkehren und alles anders machen könnte.« Pearl schüttelte langsam den Kopf. »Der Anfang ist verloren, dafür kann ich am Ende anfangen. Weil das Ende immer ein neuer Anfang ist.«
Stimmen in der Ferne, Rufe, eine singende Frau. Clare war aufgestanden, hatte die Tür zugedrückt und sie damit beide in Grabesstille eingeschlossen, in der sie an dem nackten Holztisch einander gegenüber saÃen.
»Okay«, hatte Clare gesagt. »Jetzt nehme ich wieder auf.«
Pearl hatte auf ihre Hände gesehen, als gehörten sie nicht zu ihr. Sie hatte den obersten Knopf geöffnet, dann den zweiten, dann den dritten, bis sie ihre Bluse abstreifen konnte wie eine nicht mehr benötigte Haut.
Sie fuhr sich mit den Fingerspitzen über das Schlüsselbein.
Auf der rechten Seite ganz glatt; links hingegen zerklüftet, wo der gebrochene Knochen in Knoten zusammengewachsen war. Sie hatte die Hände über die Brüste gelegt, die voll auf den sichtbaren Rippen lagen. Rund um die linke Brust ein Kreis von runden Narben. Bissnarben.
»Hier ist meine Geschichte niedergeschrieben«, sagte sie. »Auf meinem Körper. Vielleicht sollte ich damit anfangen. Es ist nicht der Anfang, aber es gehört alles zum selben Buch. Ich heiÃe Pearl. Pearl de Wet. Mein Vater ist General bei den 27ern. Das sind die zwei wichtigsten Dinge, die man über mich wissen muss.«
Sie schälte sich aus ihren Kleidern und legte die Spuren frei, die ihr Geheimnis bezeugten. Tätowierungen, Narben, Schnitte â die schlanken weiÃen Striche auf ihren Schenkeln  â, bis sie nackt vor der Kamera stand. Clare hielt das Band an. Eine Tochter der Gewalt, ausgezehrt und sehnig, weil sie sich geweigert hatte zu sterben. Diese schweigende Zeugenaussage war nicht ausgestrahlt worden. Zu blutig, zu schockierend für ein Publikum, das vor dem Fernseher beim Abendessen saÃ.
Clares Tee war über dem Zuschauen kalt geworden. Sie schob den Becher beiseite und blickte
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