Todeswatt
entgegnete dieser, nachdem er eingehender Thamsens Entdeckung begutachtet hatte, »vielleicht ist es aber auch nur eine ganz normale Verletzung. Eventuell ist er gestürzt oder die Leiche ist im Wasser an etwas gestoßen. Treibholz oder so.«
»Ist das der Tote? Sieht ja fürchterlich aus.« Die Wirtin stand plötzlich hinter ihnen und schaute neugierig auf die Fotos.
»Kanntest du den?« Funke war auf einmal ganz in seinem Element. Der Umgang mit lebenden Einheimischen fiel ihm offensichtlich leichter als der mit Leichen. Er reichte der älteren Frau eines der Bilder.
Die war jedoch mehr daran interessiert, die grausige Entdeckung aus dem Watt zu Gesicht zu bekommen, als seine Frage zu beantworten. Mit offenem Mund und großen Augen sog sie jede Einzelheit der Ablichtung förmlich in sich auf. »Oh Gott, oh Gott. Nee auch.«
Thamsen schob die Bilder auf dem Tisch wieder zusammen und steckte sie zurück in den Umschlag.
»Frau Janzen«, wiederholte er Funkes Frage, »kannten Sie Arne Lorenzen?«
Die Inhaberin der Pension schüttelte langsam den Kopf, ohne ihren Blick von dem Foto zu wenden. »Nee, aber so stell ich mir den Wassermann vor.«
»Welchen Wassermann?« Thamsen war irritiert, deshalb sorgte Funke rasch für Aufklärung.
»Ach«, wertete er die Bemerkung der Wirtin ab, »das ist nur eine Sage.«
Angeblich war einst in Nordfriesland ein Leichnam an Land gespült worden. Die Leute hatten ihn wohl begraben, aber seitdem tobte das Meer und spülte riesige Sandmassen über die Äcker und Felder. Man vermutete, der Tote sei ein Wassermann gewesen und nun wolle das Meer ihn zurückholen.
»Typische Spökenkiekerei«, erklärte der junge Kollege.
Die ältere Frau protestierte sofort energisch. »Vielleicht ist das nur eine Sage, aber da ist immer ein Fünkchen Wahrheit dran. Das Meer ist aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Und so einen«, sie schwenkte aufgeregt das Bild in ihrer Hand, »hab ich hier noch nie gesehen.«
*
»Entschuldigt bitte«, Marlene legte ihre Handtasche auf den freien Stuhl und zog ihren Mantel aus, »aber das Gespräch hat doch etwas länger gedauert.«
Tom, Haie und Ursel saßen seit einer guten halben Stunde in der Gastwirtschaft. Sie hatten sich bereits Getränke bestellt, mit dem Essen jedoch auf sie gewartet.
»Warst du denn erfolgreich?« Haie war wie immer neugierig auf ihre Ergebnisse. Er hatte sich zwar schon für die Geschichte und Kultur seiner Heimat interessiert, bevor sie sich kennenlernten, aber seit Marlene am Nordfriisk Instituut arbeitete, zogen ihn ihre Forschungen über zum Teil längst vergangene Zeiten geradezu in ihren Bann.
Begierig las er all die Bücher, die sie ihm aus der Bibliothek mitbrachte und oft diskutierten sie bis spät in die Nacht über den Wahrheitsgehalt der alten überlieferten Erzählungen oder die Entwicklung Nordfrieslands und der Menschen, die sich diesen Landstrich zu eigen gemacht hatten.
»Na ja«, Marlene ließ sich leicht erschöpft auf den freien Platz gleiten, »ich weiß nicht, ob man der Frau glauben kann.« Sehr eindrucksvoll habe die ältere Dame ihr von ihren Begegnungen mit den Toten berichtet. »Natürlich gibt es keine Beweise, aber kann man sich solche Geschichten wirklich ausdenken?«
Tom griff nach Marlenes Hand. Er spürte, wie aufgewühlt sie war. Sie glaubte nicht an Geister oder daran, dass Verstorbene in irgendeiner Art und Weise am Leben der Hinterbliebenen teilhaben konnten. Für sie zählten in Bezug auf ihre Forschungen allein wissenschaftliche Belege und die gab es nun einmal nicht. Sie hatte das Projekt auch lediglich von einer Kollegin, die in Mutterschutz gegangen war, übernommen, da ihr Chef sie darum gebeten hatte. Und dennoch schien das Gespräch mit der angeblichen Augenzeugin sie verunsichert zu haben.
»Was hat sie denn so erzählt?« Haie war hinsichtlich Marlenes Gemütszustandes weniger sensibel. Erwartungsvoll lehnte er sich etwas über den Tisch und wartete gespannt auf ihre Antwort.
»Ach, was wird sie schon geredet haben. Wahrscheinlich irgendwelchen übertriebenen Gespensterkram«, versuchte Tom dem Thema die Brisanz zu nehmen. »Kennst ja die Leute hier.«
»Nein, so kann man das nicht ausdrücken«, widersprach Marlene unerwartet, »sie hat von ganz konkreten Fällen berichtet. Menschen, die es nachweislich gegeben hat. Und sie konnte sie detailliert beschreiben, ohne die Personen jemals vorher gesehen zu haben.«
Tom, der ebenfalls nicht an derartige Phänomene
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