Todeswatt
bewusst die Entscheidung getroffen zu haben, wieder zurückzukehren. Er konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben als hier auf dem kleinen Fleckchen Land in der Nordsee mit der Alten Kirche, der Nordermühle und dem knapp 40 Meter hohen Leuchtturm, der einen weit aus der Ferne begrüßte. Er brauchte die frische Luft, die Ruhe, die Möglichkeit, mit sich und der Welt allein zu sein. Und natürlich das Meer. Wer im Einklang mit den Naturgewalten aufgewachsen war, konnte sich wahrscheinlich niemals im Leben ganz davon lösen.
Er drehte sich um, blickte wieder in Richtung Haus der Bendixens, und streckte sich noch einmal ausgiebig, ehe er es sich erneut auf dem Fahrersitz bequem machte.
Im Radio spielten sie einen Klassiker aus den 80ern. Er drehte die Musik etwas lauter und schloss die Augen. Zu diesem Lied hatte er das erste Mal mit einem Mädchen getanzt. Er konnte in seinen Erinnerungen förmlich das Kribbeln in der Magengegend spüren, das er damals dabei empfunden hatte und das heute jäh von einem vorbeirasenden Pkw zerstört wurde. Der helle Audi, an dessen Steuer Jens Bendixen saß, hatte mindestens 100 Sachen drauf.
Funke startete schnell den Motor und folgte dem Wagen in einigem Abstand.
Jens Bendixen hielt sich an keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzungen. Anscheinend hatte er es äußerst eilig. Am Hafen hatte er sein Ziel erreicht. Funke beobachtete aus sicherer Entfernung, wie der Verfolgte zum Bootsanleger lief, auf eines der Boote sprang und unter Deck verschwand. Bereits wenige Sekunden später erschien er wieder auf der Bildfläche. In der Hand hielt er eine Tasche. Funke stieg aus und lief Bendixen entgegen.
»Moin, Jens, so früh schon unterwegs?«, begrüßte er ihn und schielte dabei auf den Beutel, den der Bootsbesitzer daraufhin fest an sich presste. Dem Polizist blieb diese Reaktion natürlich nicht verborgen und er fragte sich, was der Mann vor ihm zu verheimlichen versuchte. Überhaupt verhielt sich Jens Bendixen verdächtig und Funke hielt an seiner Theorie fest, welcher zufolge der Banker irrtümlich Opfer des betrogenen Ehemannes geworden war. Und unter Garantie hatte dieser sich der Leiche mithilfe seines Bootes entledigt. Wahrscheinlich bräuchten sie nur das Schiff auf Spuren zu überprüfen, aber Thamsen hatte davon abgeraten, einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen.
»Was haben wir denn schon in der Hand? Der Staatsanwalt wird uns nichts ausstellen. Und auf eigene Faust gehst du da nicht hin«, hatte er ihn gewarnt.
Funke war es schwer gefallen, sich daran zu halten. Es wäre ein Leichtes gewesen, in der Dämmerung ungesehen auf das Boot zu gelangen, um es zu durchsuchen. Doch Thamsen hatte recht. Würde er etwas bei einer unerlaubten Razzia finden, konnten sie es nicht als Beweis verwenden. Außer der Gewissheit, mit seiner Theorie richtig zu liegen, würde es ihm vermutlich gar nichts bringen.
Aber jetzt schien Gefahr in Verzug. Ganz offensichtlich wollte Bendixen Beweise verschwinden lassen. Da musste er handeln. »Wo willst du denn so früh hin?«
»Och«, entgegnete der Bootsbesitzer, »wollte angeln gehen. Hab nur mein Zeug vom Boot geholt.« Er schwenkte die Tasche leicht hin und her.
Funke verfolgte den pendelnden Beutel, der ihn wenig überzeugte. Da passte doch keine Angelrute hinein. »Und warum fährst du nicht mit dem Boot raus?«
Der große blonde Mann schaute völlig perplex und überlegte einen Tick zu lange, ehe er stockend antwortete, er fahre mit einem Freund aufs Festland.
Funke glaubte ihm kein Wort. »Was ist in der Tasche?«
*
Das Treffen mit den drei Freunden ersparte Thamsen eine Menge Arbeit. Ohne den Hinweis von Tom Meissner hätte er kaum so schnell eine Spur zur Freundin des Toten bekommen. Außerdem war es ein wirklich netter Abend gewesen.
Er stieg in seinen Wagen und drehte den Zündschlüssel um. Die Uhr neben dem Tacho leuchtete auf. Er würde sich beeilen müssen, wenn er Anne wie versprochen rechtzeitig von der Schule abholen und zur Tagesmutter bringen wollte. Diese hatte sich nämlich im Skiurlaub das Bein gebrochen und ihn daher gebeten, seine Tochter ausnahmsweise direkt bei ihr abzuliefern. Bei der Gelegenheit musste er mit ihr über neue Betreuungszeiten sprechen. Nach dem Vorfall auf dem Geburtstag seiner Mutter wollte er auf keinen Fall in der nächsten Zeit in die Verlegenheit geraten, sie noch einmal bitten zu müssen, auf die Kinder aufzupassen. Sie war zwar dabei nicht das Problem, aber er würde sich
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