Todeszauber
vor ihm stand. Dieses Mädchen ähnelte ihrem Vater viel mehr als ihr Bruder Eric. Bony entging nicht das kurze Erschrecken, doch schon im nächsten Moment glitt ein amüsiertes Lächeln über ihr Gesicht. Sie sah aus, als sei sie geradewegs von der Titelseite eines Modejournals gestiegen.
»Inspektor Bonaparte ist zu uns gekommen, um Jeffs Verschwinden aufzuklären«, sagte der alte Lacy mit seiner dröhnenden Stimme.
Es war nicht zu erkennen, ob das Mädchen seine Worte gehört hatte. Ihre Gedanken rasten, das sah Bony deutlich. Sie hatte ihr Mienenspiel völlig in der Gewalt, nicht aber ihre Hände – bis sie bemerkte, daß Bony darauf blickte. Jetzt erst wurde sie sich bewußt, wie ihre Hände zuckten, und sie schob sie rasch in die Hosentaschen.
»Ein wunderbarer Tag, um einen ordentlichen Galopp zu reiten, Miss Lacy«, meinte Bony im Plauderton. »Und außerdem eine wunderschöne Landschaft. Es wird morgen bestimmt ein Genuß, wenn ich mit dem Schwarzen Kaiser ausreite.«
»Ganz bestimmt, Inspektor«, pflichtete der alte Herr bei.
Die nervöse Spannung hatte sich gelegt, das Mädchen sah zu dem Rappen hinüber.
»Seien Sie vorsichtig, Inspektor Bonaparte«, sagte sie, ohne Bony oder ihren Vater anzublicken. »Mr. Anderson hat oft gesagt, daß dieses Pferd einen leichteren Gang hat als alle anderen.« Sie drehte sich um, schaute zur Sonne und schlug vor, ins Haus zu gehen und Tee zu trinken.
»Wie sind Sie eigentlich zu uns gekommen?« wandte sie sich an Bony.
»Ihr Bruder hat mich mit dem Flugzeug aus Opal Town abgeholt.«
Diana blickte ihren Vater an. »Ist schon für Mr. Bonapartes Unterbringung gesorgt?«
»Ja. Mabel richtet ein Zimmer her. Wir haben zwar vorhin schon Tee getrunken, aber noch eine Tasse kann nicht schaden.«
»Ich werde Ihnen weiter keine Umstände bereiten, Miss Lacy, das verspreche ich«, erklärte Bony, als sie über den freien Platz gingen. Er wunderte sich ein wenig über ihre Kühle, glaubte aber den Grund für ihr Unbehagen zu kennen. »Leider werde ich eine ganze Weile hierbleiben müssen. Wenn man erst viele Monate nach einem Geschehnis mit den Ermittlungen beginnen kann, türmen sich natürlich mannigfaltige Widerstände auf.«
Ihr Gesicht blieb auch weiterhin verschlossen. Offensichtlich nahm sie Bonys Anwesenheit mit demselben Gleichmut auf, mit dem sie einen Sturm oder einen Buschbrand hinnehmen würde.
»Ihre Anwesenheit stört uns nicht weiter, Mr. Bonaparte«, sagte sie nach kurzem Schweigen, und ihre Stimme verriet Bony deutlich, daß er von ihr Widerstand zu erwarten hatte. »Wir verstehen Ihre Schwierigkeiten nur zu gut. Eigentlich ist doch schon zu viel Zeit verstrichen, um noch etwas herauszufinden – meinen Sie nicht auch?«
»Es tut mir leid, Miss Lacy, aber da bin ich anderer Meinung«, antwortete Bony gutgelaunt. »Ich wäre sogar höchst erstaunt, wenn sich Andersons Verschwinden nicht aufklären lassen würde.«
Bony öffnete die Gartenpforte, und der alte Lacy, der über die Worte des Inspektors lachen mußte, trat als erster ein. Lächelnd betrachtete Bony das Mädchen, ihre schlanke Gestalt, das etwas hochmütige Gesicht, die kalten blauvioletten Augen. Im nächsten Moment schob sie sich an ihm vorbei, um ihrem Vater zu folgen. Sie warf Bony einen schrägen Blick zu und murmelte: »Durchaus möglich, daß Sie gewaltig staunen werden.«
6
Seit dem Abend, an dem Mary Gordon voller Herzklopfen auf die Rückkehr ihres Sohnes gewartet hatte, war über Meena kein Regen mehr niedergegangen. Die Aussichten auf einen ausreichenden Futtervorrat waren deshalb im Inneren Australiens äußerst gering. Die Hoffnung, die der Aprilregen erweckt hatte, wich einer immer tieferen Resignation, je länger die Sonne den Boden ausdörrte.
An diesem Nachmittag, an dem Inspektor Napoleon Bonaparte in Karwir eintraf, ritt John Gordon nach Norden. Er war deprimiert, doch nicht nur wegen des zu erwartenden trockenen Sommers. Zu Winterbeginn hatte Meena finanziell gut dagestanden, aber nun würden die Geldmittel rasch zusammenschrumpfen.
Noch gab es auf den Weiden Futter im Überfluß, aber es bestand wenig Aussicht, daß alles nachwuchs, bevor der heiße Sommerwind die Erde verbrannte. Glücklicherweise hatte John Gordon II. große Voraussicht bewiesen, indem er eine Anzahl Brunnen und Wasserstellen angelegt hatte, so daß es in Meena selbst in einer ausgedehnten Dürreperiode keinen Wassermangel geben konnte.
John Gordon III. hatte den ganzen Tag auf
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