Todeszeit
schaltete das Licht aus und zog die Tür zu. Weil es Kräfte gab, gegen die man klugerweise zusätzliche – ja irrationale – Vorkehrungen traf, klemmte er wieder einen Stuhl unter den Knauf. Vielleicht hätte er die Tür zugenagelt, wenn Zeit dafür gewesen wäre.
Er fragte sich, ob er sich je wieder sauber fühlen würde.
Ein Zittern durchlief seinen ganzen Körper. Ihm war kotzübel.
Am Spülbecken hielt er das Gesicht unter das kalte Wasser.
Die Türglocke läutete.
52
Die Glocke spielte die bekannten Takte aus der »Ode an die Freude«.
Seit Julian Campbell angerufen hatte, waren erst wenige Minuten vergangen. Fünf Milliarden Dollar pro Jahr stellten einen Schatz dar, für den Campbell alles tun würde, aber das änderte nichts daran, dass er nicht in der Lage gewesen wäre, so rasch ein neues Paar Killer zu Ansons Haus zu schicken.
Mitch drehte den Wasserhahn ab und versuchte mit tropfendem Gesicht zu überlegen, ob er aus irgendeinem Grund das Risiko eingehen sollte, aus einem der Wohnzimmerfenster zu spähen, um die Identität des Besuchers festzustellen. Ihm fiel kein Grund ein.
Zeit, sich davonzumachen.
Er griff nach dem Müllbeutel mit dem Lösegeld und nahm die Pistole vom Tisch. Dann ging er zur Hintertür.
Der Taser. Den hatte er neben dem Backofen liegen lassen. Er kehrte noch einmal um.
Wieder drückte der unbekannte Besucher auf die Klingel.
»Wer ist das?«, fragte Anson in der Waschküche.
»Der Postbote. Halt jetzt die Klappe.«
Als Mitch wieder auf die Hintertür zuging, fiel ihm das Handy seines Bruders ein. Es hatte auf dem Tisch neben dem Lösegeld gelegen, aber er hatte trotzdem nur nach dem Beutel gegriffen und das Telefon liegen lassen.
Offenbar hatte ihn die rasche Abfolge von Julian Campbells Anruf, Ansons grausigen Enthüllungen und dem Läuten der Türglocke ziemlich durcheinandergebracht.
Nachdem er das Handy an sich genommen hatte, drehte Mitch sich im Kreis, um noch einmal die ganze Küche im Blick zu haben. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er nun wirklich nichts mehr vergessen.
Er schaltete das Licht aus, trat aus der Tür und schloss sie hinter sich ab.
Zwischen den Farnen und dem Bambus spielte der unermüdliche Wind Fangen mit sich selbst. Ledrige, zerfledderte Blätter eines Banyanbaums, die es aus einem Nachbargarten hergeweht hatte, sausten scharrend über das Ziegelpflaster im Hof.
Mitch ging zur ersten der beiden Doppelgaragen und betrat sie durch die Seitentür. Hier wartete sein Honda, während John Knox auf der Ladefläche des Oldtimers verweste.
Inzwischen hatte er einen vagen Plan entwickelt, wie er Anson den Tod von Knox anhängen und sich gleichzeitig von dem Verdacht befreien konnte, seine Eltern ermordet zu haben. Da nun jedoch Campbell wieder ins Spiel kam, fühlte er sich, als würde er mit Rollschuhen über blankes Eis schlittern, und der vage Plan war plötzlich gar kein Plan mehr.
Im Augenblick waren diese Probleme ohnehin nicht von Belang. Sobald Holly in Sicherheit war, würden John Knox, die Leichen im Lernzimmer und der an den Stuhl gekettete Anson wieder ins Zentrum rücken, aber vorläufig stellten sie nur eine Nebensache dar.
Es blieben noch mehr als zweieinhalb Stunden, bis er Holly gegen das Geld eintauschen konnte. Er klappte den Kofferraum des Hondas auf und versteckte den Müllbeutel in der Mulde mit dem Reserverad.
Auf dem Vordersitz des alten Buick fand er eine Fernbedienung für das Garagentor. Er nahm sie mit und setzte sich in den Honda.
Die Pistole und den Taser brachte er im Seitenfach der Fahrertür unter. Wenn er am Lenkrad saß, hatte er die beiden Waffen nun im Blick, und außerdem waren sie leichter erreichbar, als wenn er sie unter dem Sitz verstaut hätte.
Mitch drückte auf die Fernbedienung und beobachtete im Rückspiegel, wie das breite Tor hochrollte.
Während er rückwärts aus der Garage fuhr, blickte er nach rechts, sah, dass der Fahrweg hinter dem Grundstück frei war, lenkte den Wagen darauf – und trat verblüfft auf die Bremse, als jemand ans Fenster der Fahrertür klopfte. Sein Kopf zuckte nach links, und er starrte in das Gesicht von Lieutenant Taggart.
53
Vom Glas gedämpft, tönte es: »Hallo, Mr. Rafferty! «
Mitch starrte den Lieutenant eindeutig zu lange an, bevor er das Fenster herunterließ. Dass er verblüfft war, lag nahe, aber stattdessen sah er bestimmt eher geschockt und verängstigt aus.
Der warme Wind rüttelte an Taggarts Sportsakko und ließ den Kragen seines
Weitere Kostenlose Bücher