Todfeinde
Gefühl, sie zu betrügen. Und ich hasse dieses Gefühl. Ich bin kein Ersatz für Will, Stella. Und das ist nicht das Einzige, was ich heute Abend begriffen habe.«
Er stand schweigend da und wollte sie nicht ansehen. Ihm war klar, dass sie weinte, und das setzte ihm zu. Aber er konnte sie nicht umarmen, noch nicht.
»Stella?«
Sie wischte sich die Tränen flüchtig von den Wangen und sah zu ihm hoch.
»Warum hast du Will Jensen umgebracht?«
»Um Himmels willen«, sagte sie, als hätte er sie geohrfeigt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, und sie wirkte verängstigt.
»Ich weiß, dass du es warst. Daran, wie die Pistole abgefeuert wurde, war abzulesen, dass unmöglich er selbst geschossen haben konnte. Und bevor ich heute Abend hierher gekommen bin, habe ich herausgefunden, dass Will Schlafmittel verabreicht wurden – und auf welche Weise. Aber erst nach dem Gespräch mit einem alten Mann, der seinen Hund ausführte, wusste ich, dass du es warst, die abgedrückt hat. Er sagte, er hätte an jenem Abend mit Will gesprochen und dann dich in das Haus gehen sehen. Den Schuss hat er nicht gehört, aber als er nach Mitternacht noch mal raussah, war dein Wagen weg.«
Sie schlang die Arme fester um den Leib und schaukelte ein wenig vor und zurück. Die Woge, die Joe gespürt hatte, wurde heißer. Arme und Brust fingen an zu kribbeln, und es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Irgendetwas passierte mit ihm.
»Verachte mich nicht, Joe«, sagte sie schließlich. »Ich habe diesen Mann geliebt, das Authentische und Gewöhnliche an ihm. Er war ein anständiger Mensch – genau wie du.«
Joes Beine gaben ein wenig nach, und er lehnte sich ans Geländer, um nicht zu schwanken.
»Dass sie ihm Schlafmittel verabreichten, weiß ich erst seit heute Morgen, als du mir beim Frühstück erzählt hast, dass der Arzt Spuren davon in deinem Blut gefunden hat. Daraufhin habe ich meinen Arzt befragt. Er sagte, Valium und Xanax seien Substanzen, die Depressive in den Selbstmord treiben können, zumal, wenn sie nichts davon wissen, dass ihnen diese Mittel zugeführt worden sind. Und er hat mir erzählt, dass sich Anfang des Jahres schon einmal jemand nach den Wirkungen dieser Medikamente erkundigt hat: mein Mann. Don hat behauptet, einen Angestellten zu verdächtigen, aber offenbar hatte er etwas ganz anderes im Sinn. Ich merkte nur, dass es Will immer schlechter ging und er sich schlimm aufführte. Er erniedrigte sich. Die Leute begannen, sich über ihn lustig zu machen. Er verlor seine Familie und stand kurz davor, auch seine Stelle zu verlieren, und das brach mir das Herz. Er war so ein anständiger Mensch.
Oben in der Diensthütte war er für einen Tag wieder er selbst. Er hatte ein schlechtes Gewissen, mit mir dort zu sein, doch es ging ihm gut. Ich dachte, ich wäre zu ihm durchgedrungen. Dann begann er zu zittern, und ihm wurde übel. Heute ist mir klar, dass er unter Entzugserscheinungen litt, aber damals wusste ich das so wenig wie er.«
Joe hatte das Gefühl, heiße Finger griffen durch seinen Hals hindurch nach seinem Hirn wie nach einem Softball. Er wollte sich auf Stellas Worte konzentrieren, doch es gelang ihm einfach nicht.
»Als ich ihn an jenem Abend fand, war er in grässlicher Verfassung«, sagte sie schniefend. »Seine Waffe lag auf dem Tisch, und er konnte sich nicht mal mehr bewegen. Er hatte sich übergeben und dabei besudelt. Wahrscheinlich hatte er gehofft, durch all das Fleisch irgendetwas aus seinem Körper zu vertreiben, doch das hatte nicht funktioniert. Er tat mir so leid! Er sagte, ich sei der einzige Mensch, den er liebe, doch er ertrage es nicht mehr. Ich flehte ihn an, sich von mir ins Krankenhaus bringen zu lassen, doch das wollte er nicht. Dieser wunderbare, anständige Mann, der so anders war als alle, die ich kannte, war in einem erbärmlichen Zustand.«
Joe griff mit beiden Händen nach dem Geländer, um sein Gleichgewicht zu halten, und blickte ins Dunkel. Seine Augen brannten. Stellas Worte klangen plötzlich ganz laut und hämmerten an seinen Schädel.
»Zweimal hat er versucht, sich die Waffe in den Mund zu schieben, war dazu aber nicht mehr in der Lage. Ich habe fürchterlich geweint, doch dann hab ich sie genommen, ihm gesagt, dass ich ihn liebe, und es für ihn getan.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor. »Hätte ich gewusst, dass er nur in diesem Zustand war, weil Don ihn aus dem Weg räumen und es mir zugleich heimzahlen wollte … «
Sie wandte den Blick ab und
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