Todfeinde
an einem mit Salbei bewachsenen Hang. In der Dunkelheit sah es aus wie ein beleuchtetes Schiff auf hoher See. Es war die einzige Lichtquelle, so weit das Auge reichte. Joe fuhr die geschotterte Einfahrt hinauf und hielt vor der Haustür.
Graves, ein groß gewachsener, schlanker Mann mit weißem Haar und hohlen, pockennarbigen Wangen, öffnete die Tür, bevor Joe klopfte. Er trug einen flauschigen Morgenmantel, Socken und perlenbesetzte Mokassins. Er stellte sich vor und streckte ihm die Hand entgegen. Joe wäre beinahe zusammengezuckt, als er seine kalten, glatten Finger berührte. »Mein Büro ist am Ende des Flurs«, sagte Graves und bat ihn herein. »Die Akte Jensen und eine Kiste mit Beweismitteln sind auf dem Schreibtisch. Bitte nehmen Sie ohne mein Okay nichts aus den Plastiktüten.«
Joe folgte ihm in den dunklen Flur, warf zuvor aber noch einen Blick in das schön eingerichtete, geräumige Wohnzimmer, aus dem leise Musik kam und in dem schwache Glühbirnen für ein warmes Licht sorgten. Ein Mann in Graves’ Alter saß auf dem Sofa. Er schien ein Cowboy zu sein, denn er trug verschlissene Jeans, abgewetzte Stiefel und ein langärmliges Leinenhemd und hielt einen breitkrempigen Hut in den Händen. Er erwiderte Joes Gruß jedoch nicht, sondern saß nach vorne gebeugt und mit an die Wand geheftetem Blick da, als würde er glauben, wenn er sich nicht bewegte, würde er auch nicht gesehen. Der Cowboy, vermutete Joe, war Graves’ Gefährte für den Abend.
Im Büro schaltete der Arzt eine Reihe greller Lampen ein und zeigte auf den Schreibtisch. »Wenn Sie mir sagen würden, wonach Sie suchen, könnte ich Ihnen vielleicht Zeit ersparen.« In seinem klinischen Weiß wirkte das Büro ganz anders als das dämmrige Wohnzimmer.
»Ich weiß noch nicht recht, was ich suche«, erwiderte Joe ausweichend. Seine Augen hatten sich noch nicht an die Helligkeit gewöhnt. »Ich möchte die Untersuchungsergebnisse lesen und sehen, ob ich dazu Fragen habe. Ist das okay?«
»Am Telefon sagten Sie, es sei dringend«, erwiderte Graves ungeduldig.
Joe fühlte sich ertappt und errötete. »Es geht um eine Bemerkung von Sheriff Tassell. Er sagte, der Rückstoß der Waffe habe Wills Gaumen zerschmettert.«
Graves nickte. »Und zwei Vorderzähne ausgeschlagen. Eine Handfeuerwaffe dieses Kalibers hat einen enormen Rückstoß.«
»Ist die Waffe da drin?« Joe wies auf die Kiste.
Graves trat an den Tisch und nahm eine große Tüte aus der Schachtel. Die .44er Magnum war riesig und schwer, und ihr Lauf war fünfundzwanzig Zentimeter lang. Er tastete durchs Plastik hindurch nach der scharfkantigen Kimme. »Hier sehen Sie, wie das geschehen konnte.« Joe fiel auf, dass die vordere Zieleinrichtung von getrocknetem Blut verfärbt war.
»Ja«, erwiderte er zögernd. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Akten durchgehe?«
»Ich weiß nicht, was Sie sich davon versprechen, und ich hoffe, Sie haben wenigstens eine vage Vorstellung, wonach Sie überhaupt suchen«, sagte Graves seufzend. »Bitte sehen Sie zu, dass es nicht ewig dauert. Wie Sie wissen, habe ich einen Gast.«
Joe nickte.
»In der Akte sind ein paar Fotos, die verstörend auf Sie wirken könnten. Ich muss Sie warnen: Sie sind sehr explizit.«
»Verstehe«, meinte Joe leichthin.
»Das sagen alle, ehe sie die Aufnahmen gesehen haben.«
Er hörte Graves den Flur zurücktrotten und die Musik lauter drehen. Der Rechtsmediziner wollte offenbar nicht belauscht werden. Joe öffnete die Akte und las den Bericht. Er entsprach dem, was Tassell ihm darüber gesagt hatte. Er wunderte sich lediglich über die Notiz, dass weder ein toxikologisches Gutachten noch eine Autopsie erforderlich seien.
Obwohl er sich gewappnet geglaubt hatte, schockierten ihn die Fotos, wie Graves es ihm prophezeit hatte. Will war nach hinten im Stuhl zusammengesunken, und seine langen Beine waren unterm Tisch gespreizt. Sein entblößter Hals war weiß und sein blutiges Kinn nach oben gestreckt. Die Arme hingen herab. Die .44er Magnum lag neben der rechten Hand am Boden. Die Wand im Hintergrund und der Ausschnitt der Küchendecke waren voller Blut, Gehirnmasse, Haare und kleiner Knochenstücke. Joe merkte, wie ihm schlecht wurde, und sah sich nach Wasser um. An der Spüle stand ein Pappbecher, und als er ihn füllte, fiel ihm auf, dass seine Hand zitterte.
Er holte tief Luft, kehrte an den Schreibtisch zurück und zwang sich, die übrigen Bilder anzusehen. Wills Körper war aus jedem erdenklichen Winkel
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